Mein wundervolles Genom
der Menschen den gleichen Gesetzen unterworfen sein müssten wie ihre physischen Merkmale. Intelligenz und Charakter müssten erblich sein. Um diesem Gedanken nachzugehen, erforschte Galton die Merkmale vieler Verwandter und Nachkommen der berühmtesten und begabtesten Männer des viktorianischen England. Er zeichnete Familienstammbäumeund stellte dabei fest, dass es in den Familien großer Geister viel mehr »berühmte Verwandte« gab als in der allgemeinen Bevölkerung und dass die Zahl der Hochbegabten abnahm, je entfernter die Verwandtschaft zu dem großen Geist war. Die Erblichkeit sprang ihm förmlich entgegen, sie war eine unbestreitbare Tatsache.
Galton berichtete seine Beobachtungen in seinem Buch Hereditary Genius (dt. Genie und Vererbung ) , veröffentlicht 1869, gerade einmal zehn Jahre nach Darwins bahnbrechendem Werk Die Entstehung der Arten. In den folgenden Jahren überlegte Galton, wie man seine Erkenntnisse nutzbar machen könnte. 1883 fand er die Lösung: sein Konzept von Eugenik. In seinem Buch Inquiries into Human Faculty and Its Development (Untersuchungen über die menschlichen Fähigkeiten und ihre Entwicklung) schlug er vor, die britische Gesellschaft solle endlich handeln und ihren besonders begabten Mitgliedern Anreize geben, mehr Kinder zu bekommen; auf diese Weise würden sich deren Qualitäten in der Bevölkerung verbreiten.
Ein geistiger Erbe Galtons war der amerikanische Biologe Charles Davenport, der 1910 am noch jungen Cold Spring Harbor Laboratory das Eugenics Record Office gründete. Angeregt durch seine Laborexperimente mit Fruchtfliegen und anderen leicht verfügbaren Versuchstieren, stellte Davenport Galtons Idee gewissermaßen auf den Kopf: Statt die Produktion von erwünschten Merkmalen in der Bevölkerung anzuregen, plädierte er dafür, die Ausbreitung der unerwünschten zu verhindern. Davenport wollte die Gesellschaft von den schlimmen Begleiterscheinungen heilen, die die Sorge für die geistig Zurückgebliebenen, die Psychotiker und Drogenabhängigen mit sich brachte. Solche Menschen mussten »schlechte« Gene haben, und wenn man die Weitergabe dieser Gene verhindern konnte, würden sie aus der Bevölkerung verschwinden.
Davenports Programm wurde sofort eifrig in der ganzen zivilisierten Welt praktiziert. In den Vereinigten Staaten verwehrte man »niederen« ethnischen Gruppen aus eugenischen Gründen die Einwanderung, und in vielen europäischen Ländern wurden sogenannte »Kretins« zwangsweise sterilisiert. Die Bewegung erreichte ihren grotesken Höhepunkt mit der Vernichtung von Juden, Zigeunern, Homosexuellen, Geisteskranken, geistig Behinderten und anderen »asozialen Elementen« durch die Nazis. Mit dieser Katastrophe im Hinterkopf wurde nach dem Zweiten Weltkrieg jedes genetische Herumbasteln auf den Friedhof der Ideologien verbannt.
Aber an der vordersten Front der Forschung entwickelte sich allmählich ein dynamischeres, aufgeklärteres Verständnis vom Zusammenspiel zwischen Angeborenem und Erworbenem, und nach der Entdeckung der DNA wurden immer mehr entsprechende Studien veröffentlicht. Angeregt durch Galtons Werk, erforschte man die Frage, ob geistige Merkmale und psychische Erkrankungen erblich sind, vor allem durch die Untersuchung von Zwillingen. Seit damals sind Zwillingsstudien ein zentrales Werkzeug der quantitativen Genetik, eines Zweigs der Genetik, der sich darauf konzentriert herauszufinden, ob ein bestimmtes Merkmal eine genetische Komponente hat und, wenn ja, wie stark diese Komponente ist.
Die Erblichkeit oder vielmehr der Grad der Erblichkeit lässt sich schwer festmachen. Es ist keine Zahl, die für den Einzelnen gilt, sondern eine für den Durchschnitt der Bevölkerung. Wenn man zum Beispiel sagt, dass die Körpergröße zu 90 Prozent erblich ist, heißt das nicht, dass 90 Prozent meiner Körperlänge von 1,72 Meter durch meine Gene bestimmt sind und der Rest durch meine Ernährung und meinen allgemeinen Gesundheitszustand. Sondern es bedeutet, dass 90 Prozent der Variation bei der Körpergröße in der gesamten Bevölkerung mit der genetischen Variation zwischen den Individuen in der Bevölkerung zu tun haben.
Mathematisch ausgedrückt, ist die Erblichkeit eines Merkmals der Teil der Varianz bei dem untersuchten Merkmal, der auf die Gene zurückgeführt werden kann. Die Zwillingsstudien versuchen das in zweierlei Weise zu erfassen. Zum einen vergleicht man ein bestimmtes Merkmal von eineiigen Zwillingen, die nach der Geburt getrennt
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