Meine 500 besten Freunde
diesem Moment liebte Felix sie dafür. Toll, auf praktische Fragen konnte er antworten, und es schob auch die großen Themen in den Hintergrund, oder wenigstens auf.
»Ich habe überhaupt kein Geld mehr.« Nach einer kurzen Pause, in der Frau Weber nichts sagte, entschied er sich, die Wahrheit zu sagen, etwas anderes hatte ja keinen Sinn. Er erzählte, was passiert war, die Geschichte mit Sarah ließ er vorsichtshalber aus, und aus den 500 Euro machte er 200. »Ich weiß überhaupt nicht weiter … Ich möchte wirklich gerne in eine Klinik.«
Als er wieder vom Boden aufsah, hatte Frau Weber ihre Lesebrille auf und blätterte in einem kleinen Büchlein.
»Ich gebe Ihnen jetzt eine Nummer. Sagen Sie, dass Sie von mir kommen«, sagte Frau Weber in einem Ton, der keine Spur Vorwurf enthielt. »Schauen Sie mal, ob die einen Platz für Sitenlatz fe haben. Ich halte das für eine gute Idee und kann Sie da nur bestärken.«
Sie schrieb etwas auf einen Zettel. Dann nahm sie ihre Brille ab und sah ihn direkt an. »Ich wünsche Ihnen alles Gute. Sie rufen mich an, wenn Sie wieder einen Termin ausmachen wollen.« Sie stand auf und hielt ihm den Zettel entgegen. Er nahm ihn an sich, erhob sich ebenfalls, ergriff ihre Hand und schüttelte sie, wie es ihm vorkam, ein bisschen zu lang. Glauben Sie, ich schaffe das?, wollte er fragen, doch er sagte nur »Auf Wiedersehen«. Dann faltete er den Zettel zusammen und steckte ihn tief in die Vordertasche seiner Jeans. »Okay«, sagte er, sah noch einmal zu Frau Weber, »okay«. Er drehte sich um und ging aus dem Zimmer.
Im Flur saß schon die nächste Patientin und wartete auf den Beginn ihrer Stunde, eine junge Frau, die aussah, als hätte sie gerade geweint. Kurz wehte ihn Mitleid an, und er kam sich auf eine wohltuende Weise tapfer vor, als er an ihr vorbeilief. Er hatte jetzt ein Ziel. Er würde das Ruder herumreißen und alles zum Guten wenden. Um ein Haar hätte er ihr aufmunternd zugezwinkert. Er tat es nicht, durchquerte den Flur, schloss die Wohnungstür hinter sich und verfiel im Treppenhaus in einen immer schneller werdenden Laufschritt, bevor er durch die offen stehende Haustür ins Freie trat.
Als Felix seine Jeans ein paar Wochen später von der Reinigung holte, heftete ein gelber Zettel mit der Aufschrift »Flecken« am Bund. Nachdem er sie sich zuhause von allen Seiten angesehen hatte ohne irgendwo eine schmutzige Stelle zu entdecken, löste er die Nadel aus dem Stoff und zog sie an. Als er später am Abend auf der Suche nach Kleingeld in die Vordertasche griff, bekam er etwas Weiches zu fassen und zog es heraus. Ein paar graue Fetzen, an einigen Stellen waren sie zu Kügelchen zusammengeklumpt. Frau Webers Handschrift war nicht mehr zu erkennen.
YOU REMIND ME OF
A FRIEND I NEVER HAD
Ruben Blacher war ein aufgeweckter, selbst in ausweglos scheinenden Lebenslagen meist positiv denkender Mann, der sich schon in vielen Berufen ausprobiert hatte, bevor er in jenem des Filmregisseurs endlich angekommen zu sein glaubte. All die Jahre als Krankenpfleger, Theatermaler und Fahrer für Fernsehproduktionen kamen ihm im Rückblick vergeudet vor, wenngleich er sich immer wieder selbst versicherte, wie sehr sie für seinen jetzigen Berufswunsch von Vorteil waren, da er so über einiges mehr an Lebenserfahrung und Menschenkenntnis verfügte als seine viel jüngeren Kommilitonen. Für seinen Abschlussfilm an der Akademie für Film & Fernsehen, an der er vier Jahre zuvor als ältester Student seines Jahrgangs aufgenommen worden war, hatte er sich Großes vorgenommen. Dies war auch der Grund, warum er sich an einem sommerlichen Vormittag auf den Weg in einen südlichen Berliner Vorort machte, in dem er nie zuvor gewesen war und der ihn, als er schließlich dort angekommen war und durch die ruhigen Straßen lief, auf die Kinder mit Kreide Hinkelkästchen gemalt hatten, so heftig an das Münchner Viertel erinnerte, in dem er aufgewachsen war, dass er ganz gegen seine Gewohnheit ein wenig melancholisch wurde und sich fest vornahm, später am Tag noch seine Eltern anzurufen, mit denen er für gewöhnlich nur sonntags sprach.
Nachdem er von dh vTer S-Bahnhaltestelle aus gesehen zweimal links und einmal rechts abgebogen, dann noch knapp einhundert Meter geradeaus und etwa die Hälfte davon wieder zurückgelaufen war, hatte er sein Ziel erreicht. Gartenstraße 14 b, ein Reihenhaus, viel unauffälliger und ärmlicher, als er es sich vorgestellt hatte. Es musste Jahrzehnte
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