Meine 500 besten Freunde
spielen?«
Voss nahm die Blumenvase vom Drehbuch, wofür er beide Hände brauchte, da es sich dabei um massives Glas handelte, und fegte die Blütenblätter mit der Handkante vom Deckblatt. Er zog das Begleitschreiben ab, in dem Blacher in stimmungsvollen Worten versucht hatte, ihn für sein Projekt zu begeistern und das noch genauso am Umschlag steckte, wie er es vor Wochen befestigt hatte, und sah lange auf das Deckblatt. »Was bedeutet der Titel?«, fragte er schließlich.
»Ja, das …«
»Warum Englisch? Spielt der Film in England? Sie sagten Berlin. Ich verstehe das nicht. Was soll das? Der Text ist auf Deutsch. Der Spielort ist Berlin, wie Sie sagen. Was also hat dieser Titel zu bedeuten?« Voss klang ungehalten.
»You remind me of a friend I never had«, sagte Blacher, »das bedeutet: Du erinnerst mich an …«
»Das Englische ist mir geläufig«, unterbrach Voss ihn scharf. »Aber: Was bedeutet es?« Er sprach das Verb gespreizt aus.
»Ich dachte, das versteht man«, sagte Blacher, der bereits von zwei seiner Professoren darauf hingewiesen worden war, dass ein englischer Titel deutsche Zuschauer abschrecke und der dennoch daran festhalten wollte, einen größeren, internationalen Markt im Kopf. »Damit sind die Projektionen gemeint, die …« »Was hat es zu bedeuten, dass der Titel auf Englisch ist? Ist das modern? Macht man das heute so? Oder ist das nur ein …« Voss verzog plötzlich schmerzverzerrt das Gesicht.
»Herr Voss?«
Er gab ein lautes Stöhnen von sich und griff sich mit einer Hand ans Herz.
»Ist alles in Ordnung?«
Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, er hatte die Augen geschlossen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Mit einem Mal sah er aus wie seine eigene Totenmaske.
»Herr Voss? Geht es Ihnen nicht gut?«
Der Alte regte sich nicht. Aber er atmete noch, die Strickjacke hob und senkte sich leicht, wie Blacher erleichtert sah. Er spielte mit dem Gedanken hinauszulaufen und Voss’ Frau zu holen, war kurz davor, den Stuhl zurückzuziehen und aufzuspringen, als Voss die Augen wieder öffnete. »Ein Spiel?«
»Ein Spiel?« Blacher war verwirrt.
»Der Titel.«
»Ach.«
Pause.
Voss: »Der Titel.«
»Ja.«
Blacher kämpfte gegen den Impuls, in Tränen auszubrechen, ein Gefühl, das er seit seiner Schulzeit nicht mehr gekannt hatte.
»Ist das eine neumodische Spielerei? Oder ist mir Wesentliches entgangen? Mag sein, dass ich etwas überlesen …«
»Nein, nein. Natürlich kann man über den Titel noch nachdenken, ich nehme Ihren Einwand da natürlich ernst.« Blachers Blick, soeben ermattet zu Boden gesenkt, war auf einen kleinen gelben Fleck auf seinem Hemd gefallen, gleich unter dem Kragen, vermutlich Eigelb, reglos verharrte er auf seiner Stuhlkante. Voss, der seinen Schwächeanfall überraschend schnell verwunden hatte, begann, in dem Drehbuch zu blättern, las sich irgendwo fest, las eine Seite, noch eine, noch eine, wobei er das Werk auf Armlänge entfernt von seinen Augen hielt, er las in einem ruhigen Tempo, und ihm war nicht anzusehen, wie er das Gelesene fand. »Natürlich kann man über den Titel noch nachdenken«, sagte Blacher irgendwann in die Stille, den Versuch, den Fleck mit dem Fingernagel abzukratzen, hatte er aufgegeben. »Ich fand nur, auf Deutsch klingt es nicht so schön. Du erinnerst mich an einen Freund, den ich nie hatte . Ich weiß nicht. Es klingt auf Deutsch gleich so bedeutungsschwer. Oder Sie? Sie erinnern mich an einen Freund? Vielleicht müsste man den Film dann gleich ganz anders nennen …« Voss, der immer noch las, stieß plötzlich ein »Ha!« aus und nahm weiterlesend den Zeigefinger zu Hilfe, mit dem er die Zeilen entlangfuhr, die er gerade las. Einmal lachte er kurz auf und schüttelte den Kopf. Blacher konnte nicht erkennen, auf welcher Seite Voss gerade war, denn dafür hielt dieser das Buch zu steil. Nachdem er ihm noch eine weitere Seite beim Lesen zugesehen hatte, bat er Voss leise, ihn zu entschuldigen, und erhob sich von seinem Stuhl. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er Filzpantoffeln trug. Sie waren inzwischen körperwarm. Er schlüpfte tiefer in sie hinein, um sie im Gehen nicht zu verlieren, und durchquerte dann zügig den Raum.
Nachdem das Gefühl von Erleichterung wieder verflogen war, das ihn nach dem Schließen der Tür ergriffen hatte, kam ihm zum ersten Mal der Zweifel, ob sich das Projekt mit Voss überhaupt durchführen ließ. Dieser schien sich keineswegs so darüber zu freuen, gefragt worden zu
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