Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
erkennen.
Im Hamam wurde eine große ethnologische Sammlung eingerichtet. In einer Vitrine in einem der kleinsten Räume bemerkten meine Cousine Emilia und ich das Kästchen und den Ring. Zufällig hatte man sie nebeneinander platziert; um sie herum lagen Ohrringe, Gürtelschnallen, kleine Silbermünzen, Zigarettenspitzen und Tabatieren. Das Kästchen war geschlossen. Auf seinem Deckel verflocht sich die Spirale des Labyrinths zu einer komplizierten Zeichnung, aus der der Weg zum Mittelpunkt nicht ersichtlich war. Auf dem Ring war ein Mohnkelch zu sehen. Daneben lag ein kleines Stück Pappe mit der Aufschrift: »Beispiele von Schmuckstücken der Stadtbevölkerung. Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts.« Nur wir, meine Cousine Emilia und ich, wussten, dass sie keiner Epoche zugehörten. Sie kamen aus dem Land des Traumes: Sie zu datieren war unmöglich, denn im Land des Traumes fließen alle Zeiten in einem großen Strom.
B EWEIS
Sich Onkel Filips prophetischen Träumen zu entziehen war im Alltagsleben unserer Familie nicht möglich. Sie drangen aus seinem Dachkämmerchen hervor und zogen ihre Fäden durchs ganze Haus. »Ach«, riefen die Tanten, »was unser Filip nicht alles träumt! Na, so was aber auch!« Und sie schüttelten die Köpfe, während sie weiter an dicken Wollsocken strickten – Socken für all die schrecklichen Winter, die uns, auch ohne dass die Träume unseres Onkels davor gewarnt hätten, in der näheren und ferneren Zukunft ganz sicher bevorstanden.
In seinen Träumen hatte Onkel Filip den Kriegsausbruch vorhergesagt, den Verlauf so manchen Manövers auf den Schlachtfeldern, meist in Afrika, Überschwemmungen, die Gehaltserhöhungen und Erkältungen der Familienmitglieder, die Erstürmung berühmter Gipfel in aller Welt, den Anstieg des Ölpreises, den Sturz gekrönter Häupter, den Stromausfall in unserem Haus, ja sogar eine Sonnenfinsternis.
»Das mit der Sonnenfinsternis gilt nicht«, meinte meine Cousine Emilia, »das kann er auch in einem astronomischen Kalender gelesen haben.«
Opa Simon sagte, er glaube nicht, dass sich Onkel Filip mitastronomischen Kalendern auskenne. »Und woher sollte er denn einen haben?«, fügte er hinzu.
Ohne sich um unsere Einwände zu kümmern, träumte Onkel Filip auch weiterhin seine Träume, des Nachts, aber auch während seines Mittagsschlafs an Sonn- und Feiertagen. Danach kam er immer mit schweißnassem Haar und abwesendem Blick aus seiner Dachstube und lief noch eine Weile ziellos durchs Haus. Er wartete, bis der Wasserkessel auf dem Ofen nicht mehr pfiff, Oma Spomenka in der Küche nicht mehr mit dem Geschirr klapperte und die Unterhaltung der Tanten verstummt war. Dann räusperte er sich, setzte sich zurecht und verkündete scheinbar bescheiden, jedoch mit einer Prise Pathos: »Ich habe geträumt …«
Nicht alle Träume Onkel Filips waren wahrhaft prophetisch. Bei manchen von ihnen ließ sich niemals eine Verbindung zu späteren Ereignissen herstellen, andere sagten ganz offensichtlich gar nichts voraus. Zumindest konnten wir in ihnen keine greifbare Bedeutung ausmachen. Es waren verstörende und unverständliche Träume darunter, konfuse und bruchstückhafte, und manchmal kam Onkel Filip beim Erzählen durcheinander, wurde unsicher und suchte nach Worten. Dann stand er mit ausgebreiteten Armen da und zuckte hilflos mit den Schultern.
»Und was geschah dann?«, fragte eine Tante.
»Wahrscheinlich bin ich aufgewacht«, antwortete Onkel Filip und erkundigte sich, wie es denn mit Kaffee aussehe.
Wenn dann ein paar Wochen oder Monate später etwas geschah, was den prophetischen Charakter seiner Träume bestätigte, tauchte er natürlich mit triumphierender Miene und leuchtenden Augen in der Küche auf, mit einem etwas gekünstelten,theatralischen Gebaren, das in Kombination mit seinem fiebrigen Eifer seinen Bewegungen etwas mechanisch Abgehacktes und irgendwie Unvollständiges verlieh. Er wartete darauf, dass einer von uns über sein ungewöhnliches Benehmen stutzen, sich an den zurückliegenden Traum erinnern und dessen Zusammenhang mit den kürzlich eingetretenen Ereignissen erkennen würde. War dies nicht der Fall, spulte er umständlich und mit zahlreichen Pausen, die den Anwesenden Gelegenheit geben sollten, sich rechtzeitig auf die zuvor verpasste Gelegenheit zu besinnen und den Zusammenhang zwischen dem Traum und seinem Gegenpart in der Realität doch noch festzustellen, den vom Traum ausgehenden Faden ab. Und der führte langsam,
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