Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
die Schritte, die da die Treppe hochstiegen, entfernten und ganz verstummten. Dann schauten wir uns um.
Allmählich gewannen die Gegenstände im Halbdunkel ihre Konturen zurück. Aus dem Chaos vor uns lösten sich schiefe Stühle, Besen, zerbrochene Vorhangstangen mit zerrissenen und verstaubten Gardinen daran, löchrige Koffer, verschnürte Pappkartons, die rostigen Kopfteile von Bettgestellen aus Metall. Wir erspähten eine alte Wanduhr mit einem verdrehten Pendel und ein längst verstummtes Trichtergrammophon. Außerdem bemerkten wir Billardqueues, Töpfe mit vertrockneten Ficusbäumen, Bündel alter Zeitungen, zerbrochenes Kinderspielzeug, ausgetretene Schuhe, deren Leder hart geworden war, leere Flaschen von alkoholischen Getränken, kaputte Nachttischlampen mit zerdrückten Schirmen, Fotografien in Rahmen, von denen die Farbe abblätterte und deren unsauberes Glas zerbrochen war. Und über alldem stand als Symbol des grausigen Geistes der Vergänglichkeit, der hier herrschte, ein ausgestopfter Vogel, dessen Flügel vonSpinnweben eingehüllt waren. Stumm betrachtete ich dieses unheimliche Durcheinander, als Emilia mich am Ärmel zupfte.
Ich drehte mich um. Verdutzt zeigte sie zur gegenüberliegenden Wand. Dort hing an einem Nagel, im schwachen Schein des durch ein hohes und trübes Fensterchen einfallenden Lichts, ein großer Rettungsring, wie man ihn auf Schiffen findet.
Der Rettungsring war weiß-blau gestreift, doch die Zeit hatte schon längst ihren grauen Staub auf seinen Farben abgelagert. Jetzt sah er schmutzig aus, die Farbe blätterte ab, in den Rissen hatte sich Dreck gesammelt; er war völlig zerschlissen und ungestalt. Aber es war der Rettungsring eines Schiffes, und das wollte schon etwas heißen.
Plötzlich bekamen die Dinge im Raum eine andere Bedeutung: Alle diese vergessenen und ausrangierten Gegenstände konnten noch etwas anderes darstellen, konnten auch von anderen Orten und aus anderen Umgebungen stammen als jenen, an die wir zunächst gedacht hatten. Und tatsächlich, als wir das aufgehäufte Gerümpel näher betrachteten, entdeckten wir, dass sich hinter dem fleckigen und verstaubten Glas der eingerahmten Fotografien keine Aufnahmen von Schulausflügen und Familienfeiern befanden. Als wir das Glas abwischten, bemerkten wir, dass die Menschen Kleidung trugen, die man früher einmal als Reisekleidung bezeichnet hatte. Daneben standen andere in Matrosenuniformen, mit Schiffszubehör in Händen. Einen Moment lang meinte ich einen von ihnen – er hielt ein langes Fernrohr – zu erkennen: Opa Simon in jüngeren Jahren. Doch es war zu dämmerig, um sicher sein zu können. Die Zeit hatte die Fotografie bereitsunscharf werden lassen, die helleren Stellen waren verblichen und vergebens strengten wir unsere Augen an.
Von fern, weit über uns, vernahmen wir von Neuem den Ruf des Schiffes. Wir legten die Fotografie auf den Haufen Trödel zurück, und ohne uns abzusprechen, ohne einander auch nur anzublicken, verließen wir leise die Rumpelkammer und stiegen die Treppe hoch.
Nahe der Haustür war die Treppe vernachlässigt und verschmutzt, alles machte den Eindruck eines nicht eben sorgfältig gepflegten Wohngebäudes. Doch je weiter wir nach oben stiegen, desto mehr wandelte sich dieser Eindruck durch verschiedene Kleinigkeiten. Die Wände waren sauberer, in den Ecken standen Blumentöpfe mit exotischen Pflanzen, Rhododendren, Ficusbäumen und Zierspargeln, und wir entdeckten sogar kleine emaillierte Spucknäpfe. Vom zweiten Stock an lag ein Teppich auf den Stufen. In den Windungen glänzten matt die Messingkugeln. Oben, im dritten Stock, blieben wir vor einer großen Tür aus Nussholz stehen, deren polierte Oberfläche schimmerte. Dahinter waren undeutlich Stimmen zu hören, ein gedämpftes Gemurmel, das davon zeugte, dass sich mehrere Leute gleichzeitig über verschiedene Themen unterhielten.
Ich drückte die Klinke herunter, doch die Tür war verschlossen. Einen Augenblick lang standen wir unschlüssig da und wussten nicht, was wir tun sollten. Hinter dieser Tür, da waren wir uns sicher, lag der Schlüssel zum Rätsel. Wir legten die Ohren an das glatte Holz. Es war Gläserklirren zu hören, das Geräusch von Schritten, eine Stimme, die die anderen aufforderte, still zu sein und einer Ansage oder einer Rede zu lauschen. Was geschah da hinter der Tür? War Opa Simon dort?Wer war noch bei ihm? Und in welcher Verbindung standen sie mit dem Schiff, dessen Tuten durch den Nebel drang?
Während
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