Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
beide im letzten Moment hindurch, als die Tür auf der anderen Seite des Zimmers sich bereits öffnete.
Wir standen (zum dritten Mal an diesem Tag) im Halbdunkel. Als wir unseren Atem wieder unter Kontrolle hatten, taten wir ein paar Schritte. Parkett knarzte unter unseren Füßen. Neben uns standen Glasvitrinen voller ungewöhnlicher Gegenstände, an den Wänden hingen große Bilder von unbekannten Landstrichen, Seestürmen, Vulkanausbrüchen und Feldzügen. Wir kamen an einem weißlich schimmernden Skelett vorbei. Unsere Augen hatten sich inzwischen an dasDämmerlicht gewöhnt: Auf der Stirn des Skeletts entdeckten wir das Abzeichen der Piraten – einen mit Tinte gezeichneten Totenkopf, darunter zwei gekreuzte Knochen. »Das ist ja Käpt’n John«, sagte Emilia verblüfft. »Käpt’n John« war ein guter Bekannter sämtlicher Schülergenerationen des Gymnasiums, ein Skelett, anhand dessen wir in den naturwissenschaftlichen Unterrichtsstunden die menschliche Anatomie durchnahmen. Das bedeutete, dass wir uns im Schulkabinett befanden. Und tatsächlich, als meine Cousine Emilia die Hand nach der Stirn des Skeletts ausstreckte, hörten wir hinter uns die Stimme des Pedells: »Es darf nichts angefasst werden.« Der Pedell saß auf einem wackeligen Stuhl und musterte uns streng. »Wie seid ihr hier hereingekommen? Und was habt ihr hier überhaupt zu suchen?«, fragte er.
Wir dachten uns eine verwickelte Geschichte über Nachhilfestunden und eine Sitzung des naturwissenschaftlichen Zirkels aus und traten verlegen den Rückzug an. Der Pedell zweifelte an unserer Geschichte. Er begleitete uns bis zum großen Eingangstor des Gymnasiums und schloss dann mit dem riesigen Schlüssel hinter uns ab, wobei er uns argwöhnisch nachblickte.
Der Nebel warf uns wie eine zerlumpte Hexe sein giftiges Garn ins Gesicht. »Ach je, meine Tasche«, sagte Emilia und breitete verzweifelt die Arme aus. Da fiel es uns wieder ein: Emilia hatte sie bei den polierten und blitzenden Instrumenten auf das Pult mit den Karten gelegt, und dort war sie liegen geblieben. Es war nichts zu machen. »Ich werde mir für die Tanten etwas einfallen lassen müssen«, meinte Emilia. Der Nebel umwickelte uns mit langen lilafarbenen Fäden, während wir auf dem kleinen Platz vor dem Gymnasium standen.Dann tasteten wir uns entlang feuchter Mauern, von denen der Putz bröckelte, kamen immer wieder vom Weg ab und orientierten uns neu. Einige Male glaubten wir das Tuten des Schiffes zu hören. Es klang weit entfernt, gedämpft, als müsse der Ton unermessliche Distanzen überbrücken.
Wir gingen diesem Klang nach und versuchten herauszufinden, woher er kam. Doch es war, als wechselte dieser Ort andauernd seine Position, als wäre er in Bewegung, als spielte er im Nebel ein hinterlistiges Blinde-Kuh-Spiel mit uns. Immer wieder kam es uns so vor, als seien wir auf dem richtigen Weg, um dann zu begreifen, dass wir in die falsche Richtung gegangen waren. Wir verloren die Orientierung, blieben stehen, kehrten um, und der Klang wurde immer schwächer, entfernter, trügerischer, um sich schließlich als undeutliches Geräusch im Nebel aufzulösen.
***
Später versuchten meine Cousine Emilia und ich noch oft, das seltsame Haus wiederzufinden, das unserem Empfinden nach in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Klang des Schiffes stand. An den Winterabenden streiften wir gemeinsam durch die Stadtviertel, von denen wir glaubten, sie könnten das Haus in ihrem Straßennetz verbergen, spähten in die Eingänge alter Gebäude und stiegen sogar ein oder zwei Stockwerke die Treppe hoch, wo wir von unfreundlichen Hausbewohnerinnen, die gerade Sauerkraut aus dem Keller holten, zur Rede gestellt wurden – doch alles war vergebens. Das Haus blieb unauffindbar, wir waren nicht in der Lage, die Straße zweifelsfrei zu bestimmen, drehten uns im Kreis, liefen ziellos umher.
Eines Abends machten wir uns eine Sitzung des Literaturklubs zunutze. Der Pedell war abgelenkt, sodass wir in das Schulkabinett eindringen konnten. Doch wir wurden enttäuscht: Die Wand, in der sich die Tür hätte befinden müssen, durch die wir in das Kabinett geschlüpft waren, war mit einem massiven Schrank verstellt, in dem eine mineralogische Sammlung untergebracht war. Wir rüttelten am Schrank und versuchten, ihn von der Stelle zu schieben, aber es klirrten nur die Glasscheiben, die Kristalle aus der Sammlung schlugen gegeneinander und die eingestaubten Stücke erzhaltiger Mineralien funkelten
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