Meine geheime Autobiographie - Textedition
selbst einmal eine
Organisation. Ich reiste von Chicago aus mit meinem Verleger und Stenographen – ich reise immer mit
einem Leibwächter – und hatte in einem bestimmten Zug ein Privatabteil reserviert. Denn abgesehen
von allen anderen Annehmlichkeiten gibt einem ein Privatabteil das Recht zu rauchen. Als wir am
Bahnhof ankamen, sagte uns der Schaffner, bedauerlicherweise sei der Waggon mit unserem Privatabteil
abgehängt worden. Ich sagte: ›Sie sind vertraglich gebunden, mir in diesem Zug ein Privatabteil zur
Verfügung zu stellen. Ich bin nicht in Eile. Ich kann eine Woche lang auf Kosten der Eisenbahn
warten. Sie wird mir meine Spesen zahlen müssen und noch etwas obendrauf.‹
Da rief der Schaffner einen Granden herbei, und nach
einigem Hin und Her ging dieser los, warf ein paar unterwürfige Leutchen aus ihrem Privatabteil,
tischte ihnen etwas nicht ganz Wahrheitsgemäßes auf und stellte das Abteil mir zur Verfügung. Gegen
elf Uhr schaute der Schaffner herein und war sehr freundlich und gewinnend. Er erzählte mir, er habe
meinen Schwiegervater gekannt – damals war es respektabler, meinen Schwiegervater zu kennen als
mich. Dann rückte er heraus mit seinem Anliegen. Bedauerlicherweise gehe dieser Waggon nur bis
Harrisburg. Man habe nach Harrisburg, Pittsburg und San Francisco telegraphiert und könne keinen
anderen Waggon auftreiben. Er sei nun ganz auf meine Gnade angewiesen. Ich aber antwortete ihm
nur:
›Dann sollten Sie den Waggon besser
gleich kaufen.‹
Das alles hatte ich längst
vergessen, als einige Zeit danach Mr. Thomson von der Pennsylvania-Eisenbahngesellschaft hörte, dass
ich wieder nach Chicago fuhr, und drahtete:
›Ich sende meinen privaten Waggon. Clemens kann nicht in einem gewöhnlichen Waggon reisen. Der Herr
kostet uns zu viel.‹«
Gestern Nachmittag sprach ich im Majestic Theatre vor der Christlichen Vereinigung
Junger Männer der West Side. Das Publikum sollte auf Mitglieder der Vereinigung oder zumindest auf
das Geschlecht der Mitglieder begrenzt sein, ich hatte mir jedoch zwei Logen ausbedungen und Freunde
beiderlei Geschlechts eingeladen, um sie zu füllen. An den Eingangstüren gab es Ärger, und ich
befürchtete schon, dass man meine Freunde nicht einlassen würde. Miss Lyon erklärte sich bereit,
hinauszugehen und zu versuchen, sie zu finden und aus der Menge zu befreien. Sie war für solch eine
Gefälligkeit eine ziemlich kleine Person, aber vielleicht wirkten sich ihre geringen Körpermaße zu
ihren Gunsten statt zu ihren Ungunsten aus. Sie bahnte sich einen Weg durch die hereinbrechende
männliche Woge und gelangte nach draußen, wo sie die Freunde abfing und ein weiteres Abenteuer zu
bestehen hatte. Gerade als die Polizei begann, die Türen des Theaters zu schließen, und der Menge
verkündete, der Saal sei überfüllt und es werde niemand mehr eingelassen, drängte sich ein erregter
und erhitzter Mann zum Eingang und konnte eben noch die Nase hindurchstecken, doch da schlug der
Beamte dem Mann die Tür vor der Nase zu. Er und Miss Lyon standen einen Moment lang im Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit – sie als einzige Frau in diesem Meer von Männlichkeit und er, weil er vor den
Leuten gedemütigt worden war, etwas, was uns allen Vergnügen bereitet, selbst wenn wir christliche
junge Männer von der West Side sind und so tun sollten, als wäre es anders. Der Mann blickte auf
Miss Lyon hinab – das kann jeder, auch ohne sich auf einen Stuhl zu stellen – und begann voller
Pathos – ich sage, er
begann
voller Pathos; das Pathos seines Auftretens und seiner Worte
beschränkte sich auf den Beginn. Er begann mit Miss Lyon, dann wandte er sich mit seinem Schlusswort
an die Menge. Er sagte: »Seit sieben Jahren bin ich ein hochangesehenes Mitglied der Christlichen
Vereinigung Junger Männer der West Side. Ich habe immer mein Bestes gegeben und nie einen Lohn dafür
bekommen.« Er hielt kurz inne, warf einen bitterbösen Blick auf die geschlossene Tür und fügte mit
reichlich Sentiment hinzu: »Es ist halt mein gottverdammtes Pech.«
Ich glaube, das verdarb Miss Lyon meine Rede. Die Rede war in
Ordnung – jedenfalls besser als die Zeitungsberichte darüber –, doch ungeachtetihrer Komplimente wusste ich, dass sie nicht an das heranreichte, was sie draußen gehört hatte;
und an der Freude, die sie über die Beredsamkeit des Mannes draußen vor der Tür zum Ausdruck
brachte, wusste ich, dass sie es wusste.
Ich will an dieser Stelle einen Ausschnitt aus dem
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