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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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etwas
Unerschrockenes getan – und sie schreibt dies hier: ›Sie bieten an, mir einen Ring zu schicken. Aber
mein Vater möchte eine kleine Ferienreise in die Staaten Neuenglands machen, und ich soll mitfahren.
Wenn Sie mir den Ring hierherschicken, könnte er verlorengehen. Wir werden ein, zwei Tage in
Hartford sein; wäre es nicht sicherer, bis dahin zu warten, dann könnten Sie mir den Ring selbst
anstecken?‹
    Was meinen Sie dazu,
Mr. Twichell? Was halten Sie davon? Hat sie eine Neigung zu mir gefasst? Hat sie eine Neigung zu mir
gefasst?«
    »Nun«, sagte Twichell,
»das kann ich nicht sagen. Ich darf mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich darf die Dinge
nicht mit zu viel Nachdruck aussprechen, denn ich könnte mich irren. Aber ich glaube – ich glaube –
im Ganzen besehen, glaube ich, dass sie eine Neigung zu Ihnen gefasst hat – ja, doch – ich glaube,
sie hat eine Neigung zu Ihnen gefasst –«
    »Ach, Mr. Twichell, es tut meinem Herzen so gut, dass Sie das
sagen! Mr. Twichell, falls es irgendetwas gibt, was ich tun kann, um Ihnen meine Dankbarkeit für
diese Worte zum Ausdruck zu bringen – Sie sehen, in was für einem Zustand ich mich befinde – und
dass Sie das sagen –«
    Twichell
erwiderte: »Nicht so voreilig – damit uns hier kein Fehler unterläuft. Wissen Sie denn, dass diese
Situation eine sehr ernste ist? Sie kann sehr ernste Folgen für gleich zwei Leben haben. Sie wissen,
dass es so etwas wie vorübergehende Launen gibt, die für einen Augenblick die Seele eines Menschen
in Brand setzen. Dieser Mensch glaubt dann, es handle sich um Liebe, um dauerhafte Liebe – um wahre
Liebe. Irgendwann findet er heraus, dass es nur eine flüchtige, verrückte Leidenschaft war – aber
dann hat er sich vielleicht schon lebenslang gebunden, und nun wünscht er sich, er wäre nicht in
dieser misslichen Lage. Nun, lassen Sie uns noch mal überlegen. Ich glaube, dass Sie, wenn Sie sich
klug und besonnen verhalten – ich bin überzeugt, dass Sie, wenn Sie sich klug und besonnen
verhalten, dieses Mädchen dazu verlocken können, Sie zu heiraten.«
    »Ach, Mr. Twichell, ich weiß nicht, wie ich es
ausdrücken –«
    »Machen Sie sich
nicht die Mühe, etwas auszudrücken. Worauf ich hinauswill, ist dies: Wir müssen uns unsere Position
klarmachen. Wenn es
wahre
Liebe ist, dann nur zu! Wenn es aber nur eine vorübergehende
Laune ist, lassen Sie sofort die Finger davon, Ihnen beiden zuliebe. Also verraten Sie mir, ist es
wahre Liebe? Wenn es wahre Liebe ist, wie kommen Sie zu diesem Schluss? Können Sie zu Ihrer eigenen
Zufriedenheit beweisen, dass es sich auch
wirklich
um wahre, aufrichtige, dauerhafte,
beständige Liebe handelt?«
    »Mr.
Twichell, ich kann Ihnen eins sagen. Sie können es selbst beurteilen. Seit ich ein Säugling in der
Wiege war, Mr. Twichell, musste ich in unmittelbarer Nähe meiner Mutter schlafen, bei offener Tür,
denn ich litt immer unter den schrecklichsten Alpträumen, und wenn sie sich einstellten, musste
meine Mutter von ihrem Bett herbeieilen und mich trösten, besänftigen und beschwichtigen. Nun denn,
Mr. Twichell, von klein auf habe ich immer, wenn mich diese erschütternden Alpträume plagten, Mama,
Mama, Mama gerufen. Jetzt rufe ich Mary Ann, Mary Ann, Mary Ann.«
    So heirateten sie also. Sie zogen in den Westen, und wir wissen
nichts weiter über diese Liebe.
    Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren glich der Heldengedenktag der Temperatur nach eher dem
Unabhängigkeitstag als dem 30. Mai. Redner des Tages war Twichell. Auf seine Zuhörer, alte
Bürgerkriegsveteranen, redete er in der größten Kirche von Hartford eine Stunde lang ein, während
sie trauerten und vor Hitze umkamen. Dann marschierten sie los, schlossen sich dem Umzug anderer
abgeschlaffter alter Veteranen an, die aus anderen Kirchen herausquollen, trotteten durch
Staubwolken zum Friedhof und begannen Fahnen und Blumen zu verteilen – ein winziges Fähnchen und ein
kleines Blumenkörbchen für jedes Soldatengrab. Dieser Zeitvertreib dauerte und dauerte, alle atmeten
Staub ein – denn etwas anderes gab es gar nicht einzuatmen; allen strömte der Schweiß von der Stirn;
alle waren erschöpft und wünschten, es wäre vorüber. Schließlich war nur noch ein Blumenkörbchen
übrig, nur noch ein Grab ungeschmückt. Ein hitziger kleiner Major, dem der Geduldsfaden riss,
brüllte:
    »Corporal Henry
Jones
, Kompanie C, vierzehnte Connecticut-Infanterie –«
    Keine Antwort. Niemand schien zu wissen, wo
der Corporal

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