Meine geheime Autobiographie - Textedition
einen Besuch bei uns nach. Grüßen Sie mir Ihre Schwester und Ihren Sohn.
Herzlichst
Livy L. Clemens
Lieber
Doktor, wenn Sie und Ihr Sohn Jock nur
geschwind
kämen! Was für ein Willkommen würden wir
Ihnen bereiten! Im Übrigen würden Sie Ihre Sorgen und die Unruhe, die sie mit sich bringen,
vergessen. Vergisst man den Schmerz, ist man schmerzfrei; vergisst man die Sorgen, ist man sie los;
fährt man nach Übersee, schlägt man beide Fliegen mit einer Klappe. Versuchen Sie’s mal mit meiner
Verschreibung!
In aufrichtiger Zuneigung
Saml. L. Clemens
PS Livy, du hast deinen Brief nicht
unterschrieben
. Vergiss
das
nicht. S. L. C.
PPS Ich hoffe, Sie verzeihen das PS, das Mr.
Clemens an mich gerichtet hat; es direkt auf den Brief zu schreiben ist typisch für ihn.
Livy
L. C.
Hartford, 1. Juni 1882
Mein lieber Mr. Brown,
ich war dreitausend Meilen von zu Hause entfernt
beim Frühstück in New Orleans, als ich zwischen all den Exklusivberichten in der feuchten
Morgenzeitung auf die traurige Botschaft stieß. In Amerika gab es keinen Ort, ganz gleich, wie
abgeschieden, wie reich oder arm, wie vornehm oder bescheiden, wo an jenem Morgen nicht Worte der
Trauer um Ihren ehrenwerten Vater geäußert wurden, denn seine Werke haben ihn im ganzen Land bekannt
und beliebt gemacht. Für Mrs. Clemens und mich ist der Verlust ein persönlicher und unsere Trauer
von der Art, wie man sie für einen besonders nahestehenden und geliebten Menschen empfindet. Mrs.
Clemens drückt unaufhörlich ihr Bedauern darüber aus, dass wir das letztes Mal aus England
zurückgekehrt sind, ohne zu ihm gefahren zu sein, und seitdem haben wir ofteine Reise über den Atlantik ins Auge gefasst, zu dem einzigen Zweck, seine Hand zu ergreifen
und noch einmal in seine gütigen Augen zu blicken, bevor er zur letzten Ruhe gerufen würde.
Wir beide möchten Ihnen herzlich für die Edinburgher
Zeitungen danken, die Sie uns zugeschickt haben. Meine Frau und ich grüßen Sie und Ihre Tante voll
zärtlicher Erinnerungen und mit unserem aufrichtigen Beileid.
Ihr sehr ergebener
S. L.
Clemens
PS Unsere Susy ist noch immer
»Megalopis«. Diesen Namen gab er ihr.
Könnten
Sie wohl ein Foto Ihres Vaters für uns entbehren? Wir haben keins außer einem Gruppenbild mit uns
allen.
Dass sie Doktor John nicht
mehr lebend sah, war meine Schuld. Wie viele Verbrechen habe ich gegen diesen sanften, geduldigen
und nachsichtigen Geist begangen! Immer habe ich ihr gesagt, dass ich, sollte sie vor mir sterben,
den Rest meines Lebens damit zubringen würde, mir Vorwürfe zu machen wegen jeder Träne, die sie
meinetwegen vergossen hat. Und immer hat sie geantwortet, dass sie, sollte ich vor ihr aus dem Leben
scheiden, sich keine Vorwürfe machen müsste, denn sie habe mich dieser Tränen wegen nicht weniger
hingebungsvoll oder weniger beständig geliebt. Wohl zum tausendsten Mal führten wir dieses Gespräch
auch, als sich die Nacht des Todes auf sie herabsenkte – obgleich wir es nicht ahnten.
In dem letzten der oben eingefügten
Briefe schreibe ich: »Mrs. Clemens drückt unaufhörlich ihr Bedauern darüber aus, dass wir das
letztes Mal aus England zurückgekehrt sind, ohne zu ihm gefahren zu sein.« Ich glaube, ich wollte
den Eindruck vermitteln,
sie
sei daran schuld, dass wir aus England abgereist waren, ohne
ihn zu besuchen. Dem ist nicht so. Sie drängte mich, sie bettelte, sie flehte mich an, mit ihr nach
Edinburgh zu fahren, um Doktor John zu besuchen – ich aber war in einer meiner teuflischen
Stimmungen und weigerte mich. Ich weigerte mich, weil ich unseren Reisebegleiter bis zu unserer
Rückkehr nach Liverpool hätte weiterbeschäftigen müssen. Mir schien, ich hatte ihn so lange wie nur
irgend möglich ertragen. Ich wollte an Bord gehenund ihn los sein. Wie
kindisch mir das heute alles vorkommt! Und wie grausam – dass ich nicht zu bewegen war, meiner Frau
eine wahre, bleibende Freude zu bereiten, nur weil sie für mich eine kleine Unannehmlichkeit
bedeutet hätte. Ich habe nur wenige Männer gekannt, die kleinlicher sind als ich. Glücklicherweise
tritt diese Charaktereigenschaft nicht allzu häufig an die Oberfläche, und so bezweifle ich, dass
außer meiner Frau irgendein anderes Familienmitglied je geahnt hat, wie viel von dieser Eigenschaft
ich in mir trage. Vermutlich versäumte sie es nie, an die Oberfläche zu treten, sobald sich eine
Gelegenheit bot, aber wie gesagt – die Gelegenheiten waren so spärlich gesät, dass
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