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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Ehrenmitglieder der Bibelklasse, was mir aufrichtig leidtat. Ich musste ihn anrufen, damit er mich nicht abholen käme. Aber vielleicht war es ja von Vorteil für mich, dem Treffen fernbleiben zu müssen, denn ich wollte ein paar Dinge über das Lügen sagen – Wahrheiten, die zu nackt sind für die Ohren einer Bibelklasse. Alles, was annähernd der Wahrheit oder der Vernunft entspricht, ist hier so ungeläufig, dass die reine, ungeschminkte Wahrheit, die in ihrer Mitte fallengelassen wird, meiner Meinung nach ebenso viel Chaos anrichten würde wie eine Bombe.
     
    BABY-RATSCHLAG IN DER STRASSENBAHN

    Alter Mann bekam ihn, Fünfjährige gab ihn,
    Mutter sagte: »Halt den Mund«
     
    Am Samstagnachmittag klammerte sich ein gütig aussehender alter Mann in einer überfüllten Broadway-Straßenbahn Richtung Uptown an eine Halteschlaufe. Auf einem Ecksitz vor ihm kauerte eine schwächlich aussehende kleine Frau, die ein Baby an die Brust drückte. Neben ihr saß ein weiteres Kind, ein vielleicht fünfjähriges Mädchen, das sich von dem freundlichen Gesicht des alten Mannes offenbar angezogen fühlte, denn mit ihren weit aufgerissenen, strahlenden intelligenten Augen starrte sie ihn und das Baby an. Er lächelte über ihr Interesse und sagte zu ihr:
    »Meine Güte! Was für ein niedliches Baby! Genau so eins suche ich. Ich nehme es mit.«
    »Das geht nicht«, erklärte das kleine Mädchen schnell. »Es ist meine Schwester.«
    »Was? Du willst es mir nicht geben?«
    »Nein, will ich nicht.«
    »Aber«, beharrte er, und seine Stimme klang richtig wehmütig, »bei mir zu Hause gibt es kein Baby.«
    »Dann schreiben Sie an Gott. Er schickt Ihnen eins«, sagte das Mädchen zuversichtlich.
    Der alte Mann lachte. Die anderen Passagiere stimmten ein. Die Mutter dagegen schien Blasphemie zu wittern.
    »Tillie«, sagte sie, »halt den Mund und benimm dich!«
     
    Diesen Schnipsel habe ich aus der
Times
von heute Morgen ausgeschnitten. Eine ausgesprochen hübsche Arbeit, wirklich allerliebst; von jener bewundernswerten Leichtigkeit und Anmut, die echtem Gefühl und wahrer Anteilnahme sowie einer geübten Feder entspringen. Ab und zu verblüfft mich ein Zeitungsreporter mit solchen Glücksgriffen. Vor vierundvierzig Jahren war ich selbst drei Jahre lang Zeitungsreporter – doch soweit ich mich erinnere, fehlte mir und meinen Kollegen die Zeit, unsere Sachen in eine feine literarische Form zu gießen. Dieser Schnipsel wird in dreihundert Jahren noch ebenso schön und anrührend sein wie heute.
    Ich beabsichtige, dass diese Autobiographie, wenn sie nach meinem Tod veröffentlicht wird, als Vorbild für alle zukünftigen Autobiographien dient, und ich beabsichtige, dass sie viele Jahrhunderte lang gelesen und bewundert wird dank ihrer Form und ihrer Methode – einer Form und einer Methode, bei der Vergangenheit und Gegenwart ständig miteinander konfrontiert werden und Kontraste erzeugen, die, wie die Berührung von Flintstein und Stahl, immer wieder das Interesse befeuern. Außerdem wirft meine Autobiographie nicht etwa Schlaglichter auf die prunkvollen Episoden meines Lebens, sondern behandelt nur die alltäglichen Ereignisse, aus denen das Leben des Durchschnittsmenschen besteht, und so muss eine solche Erzählung den Durchschnittsmenschen interessieren, weil es sich um Ereignisse handelt, die ihm aus seinem eigenen Leben vertraut sind, in denen er sein eigenes Leben gespiegelt und durch die er es niedergeschrieben sieht. Der gewöhnliche, der konventionelle Autobiograph scheint vor allem jenen Vorkommnissen in seiner Laufbahn nachzujagen, da er mit gefeierten Persönlichkeiten zu tun hatte, dabei waren seine Begegnungen mit den Nichtgefeierten für ihn und auch für seine Leser genauso interessant und zudem weit häufiger als seine Zusammenstöße mit den Berühmtheiten.
    Gestern Nachmittag war Howells hier, und ich setzte ihm den Plan zudieser Autobiographie und ihr scheinbar systemloses System auseinander – es ist nur scheinbar, mitnichten wirklich systemlos. Das System ist durchdacht, und das Gesetz dieses Systems verlangt, dass ich von dem spreche, was mich augenblicklich interessiert, und es in dem Augenblick, wenn mein Interesse erschöpft ist, beiseiteschiebe und von etwas anderem spreche. Es ist ein System, das keiner festgelegten Route folgt und auch nicht folgen wird. Das System ist ein vollkommener und beabsichtigter Wirrwarr – eine Route, die nirgendwo beginnt, die keinem spezifischen Lauf folgt und zu meinen

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