Meine geheime Autobiographie - Textedition
Lebzeiten zu keinem Ende kommen kann, denn selbst wenn ich mit einem Stenographen hundert Jahre lang jeden Tag zwei Stunden sprechen würde, wäre nicht ein Zehntel der Dinge niedergeschrieben, die mich in meinem Leben interessiert haben. Ich sagte Howells, meine Autobiographie werde mühelos ein paar tausend Jahre überdauern, dann einen neuen Anlauf nehmen und den Rest der Zeit überdauern.
Er sagte, das glaube er sofort, und fragte mich, ob ich sie in mehreren Bänden herausgeben wolle.
Ich sagte, genau das sei mein Plan, sollte ich allerdings lange genug leben, könnte keine Stadt die vielen Bände fassen, dazu bedürfte es schon eines ganzen Staates, und es gäbe wohl keinen Rockefeller, der sich die komplette Sammlung zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Existenz leisten könnte, es sei denn auf Raten.
Howells applaudierte und sprach mir Lob und Anerkennung aus, was weise und umsichtig von ihm war. Hätte er eine andere Ansicht bekundet, hätte ich ihn aus dem Fenster geworfen. Ich mag Kritik, aber sie muss zu meinen Gunsten ausfallen.
Vorgestern stand wieder so ein erfreulicher literarischer Versuch eines Reporters in der Zeitung, und ich wollte ihn ausschneiden und hier einfügen, damit künftige Jahrhunderte ihn mit traurigem Genuss lesen, aber dann vergaß ich es und warf die Zeitung weg. Es war eine kurze Erzählung, aber gut formuliert. Ein armes halbverhungertes Mädchen von sechzehn Jahren, mitten im Winter (auch wenn eigentlich Frühling ist), in nicht mehr als ein Kleidungsstück gehüllt, wurde in ihren herabhängenden Lumpen von einem Polizisten dem Friedensrichter vorgeführt, denn man hatte sie aufgegriffen,als sie im Begriff war, einen Selbstmordversuch zu unternehmen – so die Anklage. Der Richter fragte sie, was sie zu diesem Verbrechen bewogen habe, und mit leiser Stimme, von Schluchzern geschüttelt, brachte sie hervor, dass das Leben zu einer Last geworden sei, die sie nicht länger ertragen könne; sie arbeite sechzehn Stunden am Tag in einem Ausbeuterbetrieb; mit dem kargen Lohn, den sie erhalte, müsse sie die Familie unterstützen; ihre Eltern könnten sie weder mit Kleidung noch mit genügend zu essen versorgen; dieses zerfetzte Kleidungsstück trage sie so lange, wie sie zurückdenken könne; sie beneide ihre armen Kolleginnen, die oft einen Penny für die eine oder andere hübsche Kleinigkeit erübrigen könnten; sie selbst könne sich nicht daran erinnern, jemals einen Penny für dergleichen gehabt zu haben. Das Gericht, die Polizisten und die anderen Zuschauer weinten mit ihr – hinreichender Beweis dafür, dass sie ihre mitleiderregende Geschichte gut und überzeugend erzählte. Und die Tatsache, dass auch ich, gewissermaßen aus zweiter Hand, gerührt war, beweist, dass der Reporter sein Herzblut als Tinte verwendet und gute Arbeit geleistet hatte.
In den entlegenen Teilen des Landes ist die wöchentliche Dorfzeitung noch dasselbe sonderbare Erzeugnis wie vor sechzig Jahren, als ich ein Junge an den Ufern des Mississippi war. Die weltstädtische Tageszeitung einer großen Metropole berichtet jeden Tag über das Tun und Treiben des Generalleutnants Soundso und des Konteradmirals Soundso, darüber, was die Vanderbilts tun und hinter welcher Hecke jenseits der Grenzen New Yorks sich John D. Rockefeller versteckt, um nicht vor Gericht gezerrt zu werden und zu mutmaßlichen Standard-Oil-Unregelmäßigkeiten aussagen zu müssen. Diese großen Tageszeitungen halten uns über Mr. Carnegies Taten und Worte auf dem Laufenden; sie berichten, was Präsident Roosevelt gestern gesagt hat und was er heute tun wird. Sie berichten, was die Kinder dieser Familie gesagt haben, so wie auch Europas Prinzchen täglich zitiert werden – und wir stellen fest, dass die Bemerkungen der Kinder Roosevelts unverkennbar prinzlich sind, denn was sie von sich geben, ist bemerkenswert gehaltlos und banal. Zwei Monate lang überfluteten uns die großen Tageszeitungen täglich, ja stündlich mit minutiösen und akribischen Berichten, was Miss Alice und ihr Verlobter nicht alles gesagt undgetan hatten und was sie nicht alles sagen und tun würden, bis sie endlich durch Gottes Gnade heirateten und untertauchten und es still um sie wurde.
In diesen sechzig Jahren hat sich die Hofberichterstattung der Dorfzeitungen mit dem Kommen und Gehen und den Äußerungen
ihrer
lokalen Prinzchen befasst. In all diesen Jahren hat man uns berichtet und berichtet man uns noch immer, was der erste Lebensmittelhändler des Ortes
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