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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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ich zum ersten Mal einen Slangausdruck, der bereits stark in Mode gekommen war, den ich selbst jedoch noch nie vernommen hatte.
    Als gegen zehn Uhr die Reden begannen, verließ ich meinen Platz an der Tafel und ging zur Vorderseite des großen Speisesaals, von wo aus ich das ganze Spektakel mit einem Blick überschauen konnte. Unter anderem sollte auch Colonel Vilas einen Toast ausbringen, ebenso Colonel Ingersoll, der eloquente Ungläubige, der sein Leben in Illinois begonnen hatte und dort außerordentlich beliebt war. Vilas stammte aus Wisconsin und war ein gefeierter Redner. Er hatte sich glänzend auf den Anlass vorbereitet.
    Er war unter den ersten Rednern auf der Liste von fünfzehn Trinksprüchen, Bob Ingersoll der neunte.
    Ich hatte auf den Stufen vor der Blaskapelle Position bezogen, so dass ich etwas erhöht stand und einen guten Rundumblick hatte. Während ich an der Wand lehnte, bemerkte ich auf einmal einen einfach aussehenden jungen Mann, der die Uniform eines Gefreiten und das Abzeichen der Armee des Tennessee trug. Er schien unruhig und aus irgendeinem Grund nervös zu sein. Als der zweite Redner sprach, sagte der junge Mann plötzlich: »Kennen Sie Colonel Vilas?« Ich sagte, ich sei ihm vorgestellt worden. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Es heißt, er ist die Hölle, wenn er erst mal anfängt!«
    Ich fragte: »In welcher Hinsicht? Wie meinen Sie das?«
    »Mit Reden! Mit Reden! Es heißt, er ist wie Donner und Blitz!«
    »Ja«, sagte ich, »ich habe gehört, dass er ein großartiger Redner ist.«
    Eine Zeitlang trat der junge Mann unbehaglich von einem Bein aufs andere, dann sagte er: »Glauben Sie, er kann’s mit Bob Ingersoll aufnehmen?«
    Ich antwortete: »Ich weiß nicht.«
    Eine weitere Pause. Gelegentlich, wenn ein Redner sich erhob, stimmten wir in den Beifall ein, doch der junge Mann schien ganz abwesend zu applaudieren.
    Dann sagte er: »Hier in Illinois glauben wir, mit Bob Ingersoll kann’s keiner aufnehmen.«
    Ich sagte: »Ach ja?«
    Er antwortete: »Ja, wir glauben, über Bob Ingersoll geht nichts.«
    Dann fügte er trübsinnig hinzu: »Aber es heißt auch, dass Vilas so ziemlich die Hölle ist.«
    Schließlich erhob sich Vilas, um zu reden, und der junge Mann riss sich zusammen und setzte eine überaus besorgte Miene auf. Vilas redete sich warm, und die Leute begannen zu klatschen. Er gab eine besonders schöne Passage zum Besten, und es wurde der Ruf laut: »Steigen Sie auf den Tisch! Steigen Sie auf den Tisch! Stellen Sie sich auf den Tisch! Wir können Sie nicht sehen!« Also hob eine Gruppe von Männern, die dort standen, Vilas auf den Tisch, wo die große Gesellschaft ihn gut sehen konnte, und er fuhr mit seiner Rede fort. Der junge Mann applaudierte mit allen anderen, und ich hörte, dass er etwas vor sich hin murmelte, ohne jedoch verstehen zu können, was er sagte. Als nun aber Vilas etwas ganz besonders Gelungenes hinausdonnerte, erhob sich im ganzen Saal ein ungeheurer Begeisterungssturm, und da sagte der junge Mann, der Verzweiflung nahe:
    »Es hilft alles nichts. Bob kommt da nicht ran!«
    Die nächste Stunde verharrte er in einer Art verstörter Geistesabwesenheit an seinem Platz vor der Wand, offensichtlich ohne den Saal oder sonst etwas wahrzunehmen, und als schließlich Ingersoll auf den Tisch stieg, richtete sich sein glühender Verehrer lediglich zu einer Habachtstellung auf, ohne auch nur einen Funken Hoffnung zu zeigen.
    Ingersoll mit seinem hellen, frischen Teint, seiner stattlichen Gestalt und seiner anmutigen Haltung war herrlich anzusehen.
    Er sollte den Toast auf »die Freiwilligen« ausbringen, und schon seine ersten beiden Sätze verrieten sein Geschick. Als er den dritten Satz über die Lippen brachte, erntete er tosenden Applaus, und zum ersten Mal sah mein Gefreiter zufrieden und hoffnungsvoll aus, aber er war zu verängstigt gewesen,als dass er in den Beifall hätte einstimmen können. Als Ingersoll zu der Passage kam, in der er sagte, die Freiwilligen hätten ihr Blut vergossen und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, damit eine Mutter ihr Kind behalten könne, war seine Ausdrucksweise – was immer er sagte, ich habe es vergessen – so fein und sein Vortrag so glanzvoll, dass sich die riesige Menge wie ein Mann erhob und dazwischenrief und mit den Füßen stampfte und den Saal so mit Serviettenschwenken füllte, dass es aussah wie ein Schneesturm. Dieser gewaltige Gefühlsausbruch hielt ein, zwei Minuten an, und Ingersoll stand da und wartete. Nun

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