Meine geheime Autobiographie - Textedition
Butternussholz. Er steht dicht genug an der schweren seidenen
Türdraperie des Königs von Württemberg, um – im Vergleich zu dieser – seine
Billigkeit und Hässlichkeit zu unterstreichen. An den Wänden hängen drei artige
Aquarelle, sechs oder acht sehr schlechte, ein frommes Porträt der Gräfin mit
Brautschleier und tiefem Ausschnitt und eine Reihe Fotos von Mitgliedern ihrer
Sippe. Darunter ist eine Aufnahme des Grafen, der ein männliches intelligentes
Gesicht hat und wie ein Gentleman aussieht. Welcher Teufel ihn geritten hat,
Besitzer der Gräfin zu werden, könnte er zu diesem späten Zeitpunkt vermutlich
selbst nicht mehr erklären.
Die gesamte Literatur, die sich in diesem riesigen
Haus befindet, ist in dem bei einem Brandschadenverkauf ersteigerten amerikanischen
Bücherschrank untergebracht. Es gibt vier Fächer. Das oberste besteht aus wahllos
zusammengestellter Literatur guter Qualität; das nächste Fach besteht aus in Stoff
gebundenen Büchern über christliche Wissenschaft und Spiritualismus – vierzig
schmale Bände; die beiden übrigen Fächer enthalten vierundfünfzig gebundene Bände
von
Blackwood’s Edinburgh Magazine
, von etwa 1870 an in umgekehrter
Reihenfolge nach Jahrgängen geordnet. Der Bücherschrank und sein Inhalt wurden
vermutlich aus Amerika von der Mutter der Gräfin importiert, die sich vor einigen
Monaten losgeeist hat und nach Philadelphia zurückgekehrt ist. Die Blackwoods lassen
sich nicht der Gräfin zuschreiben, da sie nichts enthalten, was für sie interessant
wäre.Unwahrscheinlich ist auch, dass das religiöse Regalfach
ihr Mitgefühl hervorrufen könnte, denn ihre moralische Verfassung besteht aus Neid,
Hass, Boshaftigkeit und Heimtücke. Sie ist unschwer die diabolischste Person, der
ich in irgendeiner Gesellschaftsschicht begegnet bin.
Aufgrund dieses
Butternussholzschranks und seines kümmerlichen Inhalts muss das eben beschriebene
Zimmer mit dem eindrucksvollen Titel »Bibliothek« beehrt werden. Inzwischen dient es
Mrs. Clemens als Damenzimmer bei den kurzen und sich nur in großen Abständen
bietenden Gelegenheiten, wenn sie das Bett, an das sie schon so lange gefesselt ist,
für eine Stunde verlassen darf. Wir befinden uns am äußersten Südende des Hauses,
falls es so etwas wie ein Südende überhaupt gibt bei einem Haus, dessen Ausrichtung
ich nicht feststellen kann, da ich in allen Fällen, wo ein Gegenstand nicht
unmittelbar nach Norden oder Süden weist, dazu nicht in der Lage bin. Dieses Haus
neigt sich irgendwo dazwischen und stiftet deshalb bei mir Verwirrung. Das kleine
Damenzimmer liegt in einer der beiden Ecken dessen, was ich das Südende des Hauses
nenne. Die Sonne geht in einer Weise auf, dass sich ihr Licht den ganzen Morgen
durch die dreiunddreißig Glastüren oder -fenster ergießt, die jene Seite des Hauses
durchbrechen, die, wie bereits beschrieben, auf die Terrasse und den Garten blickt;
während des restlichen Tages durchflutet ihr Licht das Südende des Hauses, wie ich
es nenne; mittags steht die Sonne direkt über Florenz, dort drüben in der fernen
Ebene – direkt über den architektonischen Besonderheiten, die der Welt seit etlichen
Jahrhunderten von Bildern so vertraut sind: dem Duomo, dem Campanile, dem
Familiengrab der Medici und dem schönen Turm des Palazzo Vecchio, über Florenz, aber
nicht weit darüber, denn in diesen Wintertagen erklettert sie nicht einmal die
Hälfte ihres Zenits; in dieser Position beginnt sie die Geheimnisse der herrlichen
blauen Berge zu offenbaren, die sich nach Westen hin erstrecken, denn ihr Licht
erspäht, entdeckt und enthüllt einen weißen Schneesturm aus Villen und Städten, in
die Vertrauen zu haben man sich einfach nicht gewöhnen kann; sie erscheinen und
verschwinden so rätselhaft, als wären sie gar keine heutigen Villen und Städte,
sondern nur die Geister der untergegangenen aus entlegener und dunkler etruskischer
Zeit; und am späten Nachmittag versinkt die Sonne irgendwo hinter diesen Bergen,soweit ich erkennen kann, zu keiner bestimmten Zeit und an
keinem bestimmten Ort.
Diese »Bibliothek«, dieses Boudoir oder dieses
Damenzimmer grenzt an Mrs. Clemens’ Schlafzimmer, und beide erstrecken sich über das
gesamte Südende des Hauses. Das Schlafzimmer bekommt kurz vor Mittag Sonne und wird
für den Rest des Tages verschwenderisch durchtränkt und durchflutet. Eines der
Fenster
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