Meine geheime Autobiographie - Textedition
wir keinen Freund einladen können, für ein paar Tage bei uns zu
übernachten, weil es kein nicht von uns selbst bewohntes Schlafzimmer gibt, das wir
ihm ohne wortreiche Entschuldigungen anbieten könnten. Tatsächlich haben wir keinen
Freund, den wir so wenig lieben und so geringschätzen, dass wir bereit wären, ihn in
eine dieser leeren Zellen zu stecken.
Ja – wo nur hat die untergegangene Aristokratie
genächtigt? Ich meine die wahre Aristokratie, nicht die amerikanische Gräfin, denn
diese benötigt keine nennenswerten Räumlichkeiten. Als wir ankamen, weilte ihr Gatte
im fernen Orient und diente seinem Land in irgendeiner diplomatischen Funktion, die
Mutter der Gräfin war nach Amerika heimgereist, und die Gräfin selbst residierte –
einsam und unbesucht – in diesem großen Herrenhaus, mitihrem
Leibdiener, dem Gutsverwalter, als Gesellschafter und Beschützer. Um mit meinen
Details fortzufahren: Das kleine Zimmer, in dem ich am achten Tag im Januar 1904
diese Informationen diktiere, liegt auf der Ostseite des Hauses. Es ist ebenerdig,
und durch die riesige drei Meter hohe Tür kann man auf den Terrassengarten
hinaustreten, der aus einer großen quadratischen Fläche besteht, gesäumt von einem
schmiedeeisernen Geländer, auf dem hier und da Blumenvasen thronen. Es ist eine
hübsche Terrasse mit reichlich grünem Gras, ansehnlichen Bäumen, mit einem großen
Springbrunnen in der Mitte und verschiedenfarbigen Rosen, die in der lauen Luft
nicken und die Strahlen der Januarsonne zurückwerfen. Hinter dem Geländer, nach
Osten hin, erstreckt sich der private Park, und die Auffahrt windet sich zwischen
den Bäumen hindurch zu dem fernen Eisentor an der öffentlichen Straße, wo es weder
einen Pförtner noch eine Pförtnerloge noch sonst eine Form der Kommunikation mit dem
Haupthaus gibt. Dabei ist die italienische Villa seit Urzeiten eine hermetisch
abgeriegelte Festung gewesen, bewacht von hohen Gemäuern und einem Eingang mit
verschlossenen Eisentoren. Die Tore Italiens sind immer bei Einbruch der Dunkelheit
verschlossen worden und für die Nacht verschlossen geblieben. In alten Zeiten traute
kein Italiener seinen Contadini (bäuerlichen Nachbarn), und ihre Nachfolger trauen
ihnen auch heute nicht. Bei anderen Villen gibt es Glocken und Pförtner, die
Außenstehenden zugutekommen, wenn sie Zutritt wünschen; bei dieser aber ist das
nicht der Fall und ist es offenbar nie gewesen. Hin und wieder dürfte es vorgekommen
sein, dass sich all die Könige und Adligen vor verschlossenen Toren wiederfanden.
Wie sind sie dann hineingelangt? Wir werden es nie herausfinden. Die Frage lässt
sich nicht beantworten. Sie gehört in eine Reihe mit dem anderen ungelösten Rätsel:
wo die Aristokratie in all den Jahrhunderten nächtigte, in denen sie diese Festung
bewohnte.
Um auf
die Glastür zurückzukommen. Vor ihr sind schwere grobe Lamellenläden angebracht,
eine recht gute Schutzvorrichtung gegen Steinschleudern.
Diese Fensterläden
öffnen sich wie die Flügel der Glastür auf französische Art nach außen, und ich
werde ganz nebenher anmerken, dass das französische Fenster meiner Ansicht nach
sinnvoll und praktisch ist, das englischamerikanischesein
genaues Gegenteil. Innerhalb der Glastür (ein, zwei Zentimeter innen) befindet sich
eine massive Brettertür, gut, robust und hässlich. Die Fensterläden, die Glastür und
diese Holztür zum Schutz vor eindringendem Licht und eindringenden Dieben sind
allesamt mit starken, schweren Bolzen ausgerüstet, die man beim Drehen des Türgriffs
auf und ab bewegt. Da die Mauern sehr dick sind, rücken diese Türen und Läden
einander nicht auf die Pelle, es ist viel Platz dazwischen, und es gäbe mehr,
sollten wir es doch noch mit der Angst zu tun bekommen. Die mit Fensterläden
versehene Glastür, dieser zweckmäßige Zugang zu Terrasse und Garten, ist nicht die
einzige auf dieser Seite des Hauses, durch die man bequem auf die Terrasse treten
kann. Es gibt eine ganze Prozession davon, die, Tür um Tür, an der östlichen oder
Rückfront des Hauses entlangzieht, vom südlichen bis zum nördlichen Ende – insgesamt
elf. Beginnend mit dem Südende, ermöglichen sie das Hinaustreten aus einem Salon,
aus einem großen Schlafzimmer (meinem), aus diesem kleinen, vier mal sechs Meter
messenden Empfangszimmer, in dem ich gerade arbeite, aus einem ebensolchen, drei mal
vier, das
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