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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Erdenwurm, dass es die Vorsehung war, die ihn über Bord gespült
     hat, und behält nur, dassdie Vorsehung ihn gerettet hat. An der
     plumpen, langsamen und schwerfälligen Erfindungsgabe der Vorsehung in Sachen
     Lebensrettung hat er nichts auszusetzen, hat keine sarkastischen Worte für sie
     übrig, erblickt in ihrer Zögerlichkeit, ihrer Ineffektivität nichts als Nahrung für
     Bewunderung, empfindet sie als Wunder, als Mirakel; und je länger sie braucht, je
     ineffektiver sie ist, desto größer das Mirakel; unterdessen gestattet er sich
     niemals, dem zähen alten Kapitän, der ihn wirklich gerettet hat, ein herzliches,
     inniges, uneingeschränktes Loblied zu singen, sondern tut ihn halbherzig als
     »Instrument der rettenden Vorsehung« ab.
    Um in das Eckzimmer und zu dem mit alten Blackwoods
     und moderner spiritualistischer Literatur im Wert von zwanzig Dollar beladenen
     Bücherschrank zu gelangen, musste ich – die Schilderung habe ich mir erspart – durch
     ein Zimmer gehen, das mein Schlafzimmer ist. Es hat eine gute Größe, es hat eine
     gute Form – neun mal sieben Meter. Ursprünglich war es fünfzehn Meter lang und
     erstreckte sich von einer Seite des Hauses bis zur anderen nach bester italienischer
     Manier, die das Schlafzimmer eines jeden – König, Adliger, Leibeigener – zu einem
     Durchgang ins nächste Zimmer macht; die derzeitige Eigentümerin hingegen, die
     amerikanische Gräfin, hat sechs Meter des Zimmers abgetrennt, drei davon dem Raum
     als Badezimmer angefügt und den Rest einem Flur überlassen. Das Schlafzimmer wird
     durch eine dieser bereits beschriebenen hohen Glastüren erhellt, die auf die
     Terrasse gehen. In der Mitte wird es von strahlend weißen Säulen mit dorischen
     Kapitellen unterteilt, die so groß sind wie ich und die an jedem Ende ein kleiner
     und in der Mitte ein langer Bogen ziert; das hat in der Tat Grandezza und ist sehr
     imposant. Der große Kamin ist aus weißem Marmor und die Steinmetzarbeit von jener
     anmutigen und zierlichen Art, die ihrem Alter, vermutlich vierhundert Jahren,
     angemessen ist. Der Kamin und die stattlichen Säulen sind Aristokraten, sie erkennen
     ihre Verwandtschaft und lächeln einander zu. Allerdings nur, wenn sie nicht gerade
     auf die restlichen Habseligkeiten des Zimmers fluchen. Die vordere Zimmerhälfte
     leuchtet geradezu – eine Tapete von grässlichem Muster, grellen Farben und so
     billigem Material, dass es die kühnsten Träume des Geizes übertrifft. Die hintere
     Hälfte ist vom Boden bis zur Decke in einem abstoßend dumpfen, stumpfenGelb gestrichen. Es scheint sonderbar, dass Gelb in Europa die
     bevorzugte Farbe ist, mit der man eine Wand verunziert; ich habe noch keine gelbe
     Wand gesehen, die mich nicht deprimiert und unglücklich gemacht hätte. Der
     Zimmerboden wird durch einen pensionierten Alptraum von einem Teppich bedeckt,
     dessen Muster ausladend und aufrührerisch ist und dessen empörte Rot-, Schwarz- und
     Gelbtöne bei Tag und Nacht miteinander streiten und jede Aussöhnung verweigern. Es
     gibt eine Tür, die ins Badezimmer führt, und an demselben Ende des Zimmers eine Tür,
     die auf einen schuhkartongroßen Gang hinausgeht, der zu einer weiteren Toilette
     führt. Diese beiden Türen folgen streng dem Gesetz europäischer Behausungen, ob für
     Prinzen oder für Bettelknaben gebaut, will sagen, es sind derbe, dünne, schwache,
     billige Bretter, Türen von der Art, wie sie ein Neger in den Südstaaten an seinem
     Hühnerstall anbringt. Anstelle eines Knaufs haben sie wie alle solche Türen auf dem
     Kontinent eine Klinke. Diese hebelt einen Riegel aus dem Schloss, der keine Federn
     aufweist und daher nur unter Gewaltanwendung wieder ins Schloss zurückspringt. Eine
     solche Tür kann man nicht zuknallen, sie würde einfach zurückschnellen. In der
     Klinke verfängt sich jedes Kleidungsstück, das versucht vorbeizukommen; wenn es
     nicht reißfest ist, zerreißt es; wenn es reißfest ist, stoppt es den Träger mit
     einer Jähheit, Heftigkeit und Unerwartetheit, die, wer er auch sein mag, all seine
     religiöse Zurückhaltung zunichtemachen.
    Am vorderen Ende des Schlafzimmers gibt es an allen
     Seiten Türen, so dass jeder, der will, zu jeder Tages- oder Nachtzeit
     hindurchstapfen kann, da dies der einzige Weg ist, um zu dem dahinterliegenden
     Zimmer zu gelangen, wo in dem Schrank die kostbare Bibliothek untergebracht ist.
     Mobiliar: ein lachsfarbenes Seidensofa, ein lachsfarbener

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