Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
hindurchzugucken.
Jetzt war sie wohl wirklich übergeschnappt, wie Daddy schon früher behauptet hatte. Sie machte mir Angst. »Meine Schwester war noch ein Baby. Sie ist Heiligabend geboren und starb in der folgenden Nacht. Meine Mutter, weißt du, die war nicht ganz richtig im Kopf. Ist es nie gewesen. Und in dieser Nacht, als wir alle schliefen, nahm sie das Baby mit in den Schnee hinaus und ging den Berg hinunter. Als sie am nächsten Tag nach Hause kam, waren ihre Zehen ganz blau und fast abgefroren. Anstelle des Babys hielt sie das Jesuskind im Arm.«
»Oh mein Gott«, murmelte ich. Mir war schwindelig. »Schauer…«
»Sie hat meine kleine Schwester in der Krippe vor der Kirche gelassen. Das hatte sie früher schon mal gemacht, mit mir. Sie hat mich in einem Korb vor der Kirche abgestellt, aber Daddy hat mich gefunden und mit nach Hause genommen. Gott rettet dich einmal, nicht zweimal.«
»Grandma, ich bin’s, Merilee.« Ich wollte nicht mehr hören.
»Wer?«, zischte sie und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ach, du...« Sie warf mir den finsteren Blick zu, der mir so vertraut war. »Du bist nicht Merilee. Der Name war meine Erfindung. Eigentlich heißt du Ruth. Aber ich konnte doch nicht zulassen, dass meine Enkelin den Namen dieser Frau aus New York erhielt.«
Ich rührte mich nicht vom Fleck.
»Deine Mama hat das nicht mitbekommen. So viele Jahre hatte ich auf ein Mädchen gewartet. Doch ich bekam nur zwei Jungs und die konnte ich ja schlecht Merilee nennen, oder? Das war nämlich der Name meiner kleinen Schwester. Deshalb wollte ich, dass du Merilee heißt. Also habe ich der Krankenschwester diesen Namen angegeben, während deine Mutter außer Gefecht war.«
Ich ging zu ihr und zog sie sanft aus dem Stuhl heraus. Ich konnte kaum glauben, wie zerbrechlich sie wirkte. Wie schmächtig. Ich versuchte, ihr das Jesuskind aus den Armen zu nehmen, doch sie presste es an sich, als hinge davon ihr Leben ab. »Komm, Grandma, ich bring dich ins Haus.« Ich legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie dem Eingang entgegen. Sie warf einen Blick auf ihren Baum. »Sie haben mir Mama weggenommen, und kurz bevor er uns für immer verließ, hat Daddy meine Schwester unter einer Eiche begraben. Also habe ich Avery dazu gebracht, diesen Baum zu pflanzen, damit ich mir vorstellen konnte, dass sie unter seinen Wurzeln liegt.«
Weenie begrüßte uns an der Tür. Er wedelte mit dem Schwanz und leckte ihr die Fußgelenke ab. Ich brachte Grandma zu ihrem Bett und half ihr, sich hinzulegen. Sie gab mir das Jesuskind, das ich an meine Brust drückte, weil ich nicht wusste, was ich sonst damit machen sollte. Weenie sprang auf das Bett und rollte sich am Fußende zusammen.
Sie tätschelte meinen Arm und sagte: »Meine Familie kam aus den Bergen, weit, weit weg von hier. Aus den Backwood Mountains in West Virginia. Dort haben schon immer Cousins und Kusinen untereinander geheiratet. So fing das alles an. Wenn es für eine Weile verschwunden ist, hofft man so sehr, dass es nie mehr wiederkommt.« Sie lachte. »Und als ich nach all den Jahren endlich schwanger wurde, hatte ich Angst, dass auch sie einen Schaden haben könnten. Doch Gott sei Dank waren sie nicht verrückt, meine Jungs. Ich habe ihnen immer etwas vorgesungen, als sie noch Babys waren. Ein altes Lied aus den Bergen.« Sie summte ein wenig vor sich hin. Die Melodie war mir so schmerzhaft vertraut, dass ich das Gefühl hatte, von meinem Seil zu fallen.
Sie seufzte und warf mir erneut einen dunklen Blick zu. »Warum konntest du nicht gesund geboren werden? Doch Gott sei Dank war meine kleine Bug ein ganz normales, süßes
Baby.« Sie nahm ihre Mütze ab und deutete an, dass ich mich zu ihr hinabbeugen sollte. Sie zog mir die Mütze über den Kopf.
»Mir geht’s gut, Merilee«, sagte sie müde. »Alles in Ordnung. Jetzt verschwinde von hier. Und kein Wort zu den andern!«
Weenie bellte hinter mir her, als ich mit dem Jesuskind im Arm das Haus verließ.
Kurz darauf lief ich die Treppe hinauf. Die Badezimmertür stand offen. Ich hörte, dass die Hunde irgendwo im Flur schliefen. Ich riss die Tür zu meinem Zimmer auf, doch von Biswick war nichts zu sehen. Dafür saß Bug in ihrem Anorak auf meinem Bett und schmuste mit der Katzenmama. »Was ist das denn?«, fragte sie mit großen Augen. Ich hielt immer noch das Jesuskind im Arm.
»Wo ist Biswick? Hast du ihn gesehen?«, fragte ich, während ich die Puppe sanft auf sein Bett legte.
»Er kam
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