Meine gute alte Zeit - Teil I
nicht, was mit ihr los ist. Wahrscheinlich hat sie irgendwelche Schmerzen. Seit Mittag weint sie ununte r brochen und hat auch nichts gegessen.«
»Was hast du, Agatha?«, fragte Mutter.
Ich konnte es ihr nicht sagen. Ich sah sie nur kläglich an, während mir die Tränen über die Wangen rollten. Sie musterte mich nachdenklich und sagte dann: »Wer hat ihr den Schmetterling an den Hut g e steckt?«
Es sei der Führer gewesen, antwortete meine Schwester.
»Ich verstehe«, sagte Mutter und dann zu mir: »Das hat dir nicht gefa l len, nicht wahr? Er lebte noch, und du dachtest an seine Leiden?«
Oh, diese herrliche Erleichterung, diese wundervolle Entspannung, wenn jemand weiß, was in deinem Kopf vorgeht, und es dir sagt und dich damit endlich von der schweren Last des Schweigens befreit! In höchster Err e gung schlang ich me i ne Arme um ihren Hals. »Ja, ja, ja!«, schluchzte ich. »Er hat geflattert! Er hat mit den Flügeln g e schlagen! Aber der Mann war so lieb und hat es so gut gemeint. Ich konnte nichts s a gen.«
Sie verstand alles und streichelte mich sanft.
»Ich kann mir gut vorstellen, was du dabei gefühlt hast«, sa g te sie. »Aber jetzt ist es vorbei, und wir reden nicht mehr da r über.«
Damals merkte ich zum ersten Mal, dass meine Schwe s ter eine außergewöhnliche Anziehungskraft auf die ju n gen Männer in ihrer Umgebung ausübte. Sie war ein sehr at t raktives Mä d chen, hübsch, ohne eigentlich schön zu sein, und hatte Vaters geistige Beweglichkeit g e erbt. Es war ungemein amüsant, mit ihr zu plaudern. Überdies ging eine sehr starke sexuelle Au s strahlung von ihr aus. Die jungen Männer fielen um wie die Kegel. Es dauerte nicht lange, und Marie und ich begannen über ihre verschied e nen Verehrer, was man auf dem Ren n platz ein Wettbuch nennt, anzulegen. Stunde n lang diskutierten wir ihre Chancen.
»Ich glaube, Mr Palmer wird das Feld behaupten. Was meinen Sie, M a rie?«
»C’est possible. Mais il est trop jeune.«
Ich gab ihr zu bedenken, dass er etwa gleich alt war wie Madge, aber Marie versicherte mir, dass er »beaucoup trop jeune« wäre.
»Ich, ich tippe auf Sir Ambrose«, sagte Marie.
Ich widersprach. »Er ist doch viele Jahre älter als sie, Marie.« Das mochte sein, erwiderte sie, aber es wirke sich günstig für die Haltba r keit einer Ehe aus, wenn der Mann älter als seine Frau war. Sie fügte hinzu, dass Sir Ambrose eine sehr gute Partie wäre, mit der jede Familie einve r standen sein könnte.
»Gestern hat sie Bernard eine Blume ins Knopfloch g e steckt«, beric h tete ich, aber Marie hielt nicht viel von dem jungen Bernard. Er wäre kein »garçon sérieux«.
Ich erfuhr eine Menge über Maries Familie. Ich kannte die Gewoh n heiten ihrer Katze und wie sie es zu Stande brachte, im Kaffeehaus zwischen den Gläsern herumz u wandern und sich mittendrin schlafen zu legen, ohne auch nur ein einziges zu zerbrechen. Ich wusste, dass ihre Schwester Berthe älter als sie und ein sehr stilles Mä d chen, und dass ihre kleine Schwe s ter Angèle der Liebling der ganzen Familie war. Marie vertra u te mir auch ein großes Geheimnis an: dass die Familie früher einmal Sh i je, und nicht Sijé geheißen hatte, und dass sie sehr stolz darauf waren. Zwar erfasste ich nicht, worauf dieser Stolz gegründet war – um die Wahrheit zu sagen, ich erfasse es heute noch nicht –, aber ich stimmte ihrer Meinung völlig bei und beglüc k wünschte sie zu so prominenten Ahnen.
Hin und wieder las Marie mir aus französischen B ü chern vor, wie das auch Mutter tat. Aber der große Tag kam, da mir die Mémoires d’un Âne in die Hand fielen und ich herausfand, dass ich es allein g e nauso gut lesen und auch verstehen konnte, wie wenn es mir jemand vorgel e sen hätte. Alle Welt beglüc k wünschte mich, nicht zuletzt Mutter. Endlich konnte ich Fra n zösisch!
Ende August verließen wir Cauterets und fuhren nach Paris. Ich h a be diesen Sommer noch heute als einen der schönsten meines Lebens in Erinnerung. Was hat er mir nicht alles geg e ben! Den erregenden Reiz des Neuen. Bäume – unerschöpfliche Quelle frohsinnigen G e nießens. (War es Zufall, dass ich einem meiner ersten Fantasieg e fährten den Namen »Baum« gab?) Eine neue und reize n de Freundin, meine liebe, stupsn a sige Marie. Ausritte auf Maultierrücken. Spaß mit der Familie. Meine amerikan i sche Freundin Marguerite. Die pittoreske Exotik eines fremden Landes. Aber es sind nicht die einzelnen Dinge, die,
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