Meine gute alte Zeit - Teil I
nie einen Menschen gekannt, der die Kunst der Muße in so vollem Maß besessen hätte. Das eine oder andere interessante Buch neben sich, für gewöhnlich mit einer von ihr selbst entworfenen Nadelarbeit beschäftigt, em p fing sie ihren Besucher in einem Lehnsessel in ihrem schönen Salon. Sie erweckte in ihm den Eindruck, als hätte sie den ga n zen Tag, die ganze Nacht, ja monatelang Zeit, mit ihm zu r e den. Ihre kritischen Äußerungen waren scharf und klar. Obwohl sie über jedes erdenkliche ab s trakte Thema zu sprechen wusste, erlaubte sie sich nur selten persönliche Bemerkungen. Aber es war ihre herrliche Stimme, die mich am meisten fasz i nierte. Man findet solche Stimmen so selten. Auf Stimmen habe ich immer sehr empfindlich reagiert. Eine hässliche Stimme stößt mich ab, ein hässl i ches Gesicht nicht unbedingt.
Vater war hocherfreut, seinen alten Freund Martin wi e derz u sehen. Mutter und Mrs Pirie hatten viel miteinander gemein und vertieften sich sofort in ein angeregtes G e spräch – über japanische Kunst, wenn ich mich recht entsinne. Einer der Söhne, Harold, studierte in Eton, der andere, Wilfred, der zur Marine wollte, vermutlich in Dartmouth. Wi l fred wurde später einer meiner besten Freunde, aber aus Dinard weiß ich nur zu berichten, dass es von ihm hieß, er lache laut heraus, sobald er irgendwo eine Banane sah. Was mich veranlasste, ihn aufmer k sam zu beobachten. Natürlich nahmen die beiden Jungen nicht die geringste Notiz von mir. Von einem Studenten aus Eton und einem Marinekade t ten konnte man ja auch wirklich nicht erwarten, dass sie sich so weit erniedrigen würden, einem kle i nen Mädchen von sieben Jahren ihre Au f merksamkeit zu schenken.
Von Dinard fuhren wir auf die Insel Guernsey, wo wir den Großteil des Winters verbrachten. Als Geburtstag s geschenk bekam ich drei äußerst bunte und exotisch g e fiederte Vögel. Sie hießen Kiki, Tou-tou und Bebe. Kurz nachdem wir auf Guernsey eingetroffen waren, starb K i ki, der immer ein zartes Tierchen gewesen war. Er war noch nicht so lange in meinem Besitz, als dass sein Ve r lust mich sehr tief getro f fen hätte – schließlich war ja Bebe, ein bezauberndes Vögelchen, mein Liebling –, um so mehr aber genoss ich das Vergnügen, das ich mir mit den Trauerfeierlichkeiten nach seinem Hinscheiden b e scherte. Eine Prozession zog aus der Stadt St. Peter Port in eine Gegend im Hochland, wo ein Plät z chen gefunden wurde, das für die Beerdigungszeremonie geeignet e r schien. Dort wurde Kiki würdig in einer von Mutter g e stifteten, mit Seide n bändern ausgeschlagenen Schachtel zur letzten Ruhe gebettet.
Das war natürlich alles höchst befriedigend, aber noch lange nicht das Ende. »Visiter la tombe de Kiki« wurde zu einem meiner liebsten Spazie r gänge!
Das große Ereignis in St. Peter Port war der Blume n markt. Es gab dort wunderhübsche Blumen jeder Art und sehr billig. Wie Marie b e hauptete, geschah es immer an den kältesten und windigsten Tagen, dass »Miss« auf die Frage »Und wo gehen wir heute spazieren, Miss?« mit Vorliebe antwortete: »Nous allons visiter la tombe de Kiki.« Schwere Seufzer Maries. Drei Kilometer bei diesem u n angene h men kalten Wind! Aber ich blieb hart. Ich zerrte sie zum Markt, wo wir frische Kamelien und andere Bl u men kauften, und dann begaben wir uns, von Wind und oft auch Regen gepeitscht, auf den langen Weg zu Kikis Ruhestätte, wo wir das Blumenbukett feie r lich auf sein Grab legten. Manchen Leuten muss es wohl im Blut li e gen, dass sie an B e erdigungen und Totenfeiern Gefallen finden. Wie wäre es wohl ohne diese Eigenart der menschlichen Natur um die Archäologie bestellt? Wenn in meiner Kindheit anstelle des Ki n dermädchens jemand anders mit mir spazieren ging – ein Dienstmädchen zum Beispiel –, besuc h ten wir unweigerlich einen Friedhof.
Wie herzerquickend sind doch diese Szenen auf dem Père Lachaise in Paris, wo ganze Familien die Gräber besuchen und sie für Allerseelen schmücken! Es ist fü r wahr ein geheiligter Brauch, die Toten zu ehren. Und eines weiß ich: Wie arm eine Familie auch sein mag, sie spart vor allem für ihre Bestattung s kosten. Ein liebes altes Weiblein, das einmal für mich gearbe i tet hatte, sagte: »Harte Zeiten, Schätzchen. Ja, ich habe harte Zeiten durchgemacht. Aber wie schwer es mir auch zusamme n gegangen ist, ich habe so viel Geld gespart, um mich a n ständig begraben zu lassen, und das werde ich auch nie anrü h ren.
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