Meine gute alte Zeit - Teil I
nensprache war Französisch, denn Marie konnte ja kein Englisch. Was für ein gutmütiges Ding sie doch war! Nur ein einziges Mal streikte sie, und das aus Gründen, die ich einfach nicht begreifen konnte. Sie sollte das Aschenbr ö del spi e len, und ich bestand darauf, sie müsse ihre Haare herunterla s sen. Man kann sich doch Aschenbrödel nicht mit einem Kn o ten auf dem Kopf vorstellen! Aber Marie, die, ohne zu murren, schon das Tier gespielt hatte, die Ro t käppchens Großmutter gewesen war – Marie, die gute Feen und böse Feen und hässl i che alte Frauen gespielt hatte – mit Tränen in den Augen weigerte sie sich plöt z lich, die Rolle des Aschenbrödels zu übe r nehmen.
»Mais pourquois pas, Marie?«, drängte ich. »Es ist doch e i ne sehr schöne Rolle. Sie ist die Heldin. Alles dreht sich nur um sie.«
Unmöglich, erklärte Marie, sie könne unmöglich das Aschenbrödel spielen. Ihr Haar herunterlassen, mit gelö s ten Haaren um die Schu l tern vor Monsieur erscheinen! Darum also ging es. In diesem Aufzug vor Monsieur au f zutreten, erschien Marie undenkbar und schockierend. Rä t selnd, wie ihr Verhalten zu erklären sei, gab ich nach. Wir fabrizierten eine Art Kapuze, die Maries Knoten b e deckte, und damit war das Pro b lem gelöst.
Was für sonderbare Tabus es doch gibt! Ich denke da an das Töchterchen einer meiner Freundinnen – ein ne t tes, liebenswertes kleines Mä d chen von vier Jahren. Ein französisches Kindermädchen wurde angestellt. Es gab die übliche Besorgnis, ob die beiden miteinander »au s kommen« würden, aber es ließ sich alles prächtig an. Das kleine Mädchen ging mit Mad e leine spazieren, plapperte mit ihr und zeigte ihr ihre Spielsachen. Erst beim Schl a fengehen flossen Tränen, als Joan es standhaft ablehnte, sich von Madeleine baden zu lassen. Ve r wundert gab die Mutter am ersten Tag nach, sie konnte verst e hen, dass das Kind vie l leicht zu der Fremden noch kein rechtes Zutrauen gefasst hatte. Doch die Kleine blieb auch die näch s ten zwei, drei Tage bei ihrer Weigerung. Alles war eitel Wonne und Sonnenschein bis zur Bade- und Schl a fen s zeit. Erst am vierten Tag kam Joan bitterlich weinend zu ihrer Mutter, ve r grub ihr Köpfchen in ihrem Schoß und sagte: »Du verstehst das nicht, Mama, du scheinst das nicht zu verstehen. Wie kann ich eine Fremde meinen Körper s e hen lassen?«
So war es auch mit Marie. Sie stolzierte in Hosen he r um, zeigte in manchen Rollen auch ein gutes Stück Bein, aber vor Monsieur wollte sie ihr Haar nicht herunterla s sen.
Ich könnte mir vorstellen, dass unsere Theaterauffü h rungen anfangs sehr spaßig waren, und zumindest Vater amüsierte sich königlich. Aber wie langweilig mussten sie mit der Zeit geworden sein! Und doch waren meine E l tern viel zu gütig, um mir offen heraus zu sagen, dass es ihnen lästig war, Abend für Abend heraufzukommen. Gel e gentlich drückten sie sich unter dem Vorwand, dass sie mit Freunden dinierten, aber im Gr o ßen und Ganzen hielten sie standhaft durch. Ich aber genoss es, mich vor ihnen zu produzieren.
Wir blieben den ganzen September in Dinard. Vater hatte ein paar alte Freunde getroffen: Martin Pirie, dessen Frau und zwei Söhne, die dort ihre Ferien verbrachten. Martin Pirie und Vater waren in Vevey zur Schule gega n gen und seitdem gute Freunde. Lilian Pirie, seine Frau, war eine der bemerkenswe r testen Persönlichkeiten, die mir je begegnet sind. Die Figur, die Victoria Sackville-West. so wunderbar in ihrem Buch Erloschenes Feuer g e zeichnet hat, erinnert mich ein wenig an Mrs Pirie. Sie hatte etwas Ehrfurchtgebietendes, etwas Z u rückhaltendes an sich. Sie besaß eine wunderschöne klare Stimme, edle Züge und stra h lende blaue Augen. Ihre Handbewegungen waren stets anmutig. In Dinard lernte ich sie kennen, sah sie aber dann oft wieder und blieb mit ihr in Verbindung, bis sie als Achtzigjährige starb.
Sie war einer der wenigen Menschen, die mir begegnet sind, die sich eines wahrhaft umfassenden Geistes rü h men durfte. Jedes ihrer Häuser war originell und Aufs e hen erregend eingerichtet. Sie machte die schönsten St i ckereien, es gab kein Buch und kein Stück, das sie nicht gelesen und gesehen hatte, und sie wusste immer etwas Treffendes dazu zu s a gen.
Junge Menschen scharten sich um sie und schätzten ein G e spräch mit ihr. Auch als sie schon über siebzig war, bedeutete es ein wunderbar e r frischendes Erlebnis, einen Nachmittag mit ihr zu verbringen. Ich habe
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