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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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wie unglücklich er nach kurzer Zeit auf dem teuren Reed College war, das er gegen den Willen seiner Stiefeltern durchgesetzt hatte. Das hinderte ihn nicht, das Studium bereits nach wenigen Monaten aufzugeben, aber dort weiterhin herumzuhängen. Da er jetzt nicht mehr die vorgeschriebenen Kurse für einen Studienabschluss machen musste, belegte er solche, die ihn interessierten. Er fand heraus, dass das Reed College die besten Kalligrafie-Kurse im ganzen Land anbot. Er lernte über Serifen-Schriften und die Möglichkeiten, sie zu variieren. Steve Jobs studierte mit großer Begeisterung etwas praktisch völlig Sinnloses. Als er zehn Jahre später gemeinsam mit Steve Wozniak den ersten Macintosh-Computer entwarf, tauchte dieses tief in ihm verborgene Wissen wieder auf und war der Grund, warum dies der erste Computer mit einer wunderschönen Typografie und den vielen ästhetischen Wahlmöglichkeiten für den Kunden war. Wenn Jobs nicht sein reguläres Studium abgebrochen und den Typografie-Kurs gemacht hätte, würden die Computer heute vielleicht anders aussehen, so wie die Einheitsschrift der Schreibmaschinen, bei denen niemand auf die Idee kam, hunderte verschiedene Schrifttypen anzubieten.
    Natürlich konnte er in seiner Collegezeit die scheinbar willkürlichen Ereignisse seines damals wilden Lebens nicht deuten. Aber zehn Jahre danach wurde alles sehr klar. Genau dieses Grundvertrauen, dass sich die Punkte der Vergangenheit in der Zukunft zu etwas Sinnvollem miteinander verbinden, habe ihm ein so spannendes Leben ermöglicht. Nicht aus jedem Studienabbrecher, der sich in ein scheinbar nutzloses Hobby verrennt, wird später einmal ein großer Computerpionier. Die Botschaft von Steve Jobs ist eine andere, deren Gültigkeit schon der große Philosoph Søren Kierkegaard viele Jahre vor ihm formuliert hat: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“
    Immer mehr Menschen sorgen sich, dass ihr Leben scheinbar keine Richtung hat, dass vieles, was sie begonnen haben, nie zu Ende geführt wurde, sie im Vergleich zu anderen nicht zielorientiert genug sind, dass viel zu viel Versuch und Irrtum ihr Leben beherrscht. Das beginnt damit, dass schon Kindern sehr früh die Angst eingeimpft wird, etwas falsch zu machen. Die Konsequenz ist, dass wir Kinder weg von ihren kreativen Potenzialen erziehen. Gerade jenen, die am brillantesten und kreativsten sind, geben wir in der Schule oft das Gefühl, zu versagen. Dem Schriftsteller, dem Fußballer, dem Opernsänger, dem Kreativdirektor, dem Tänzer jubeln wir als Erwachsene zu, in der Schule lassen wir zu, dass sie gnadenlos aussortiert werden – nur die Härtesten kommen durch. Und noch viel wichtiger: Jene Kinder, die nicht über eine geniale Fähigkeit verfügen, aber alle Voraussetzungen hätten, glückliche, mitfühlende und liebevolle Menschen zu werden, entmutigt man, indem man sie von klein auf in den Vergleich mit anderen zwingt, ihnen immer zeigt, was sie schlechter können als andere. Viele schleppen diesen Rucksack an Selbstzweifeln bis ins Erwachsenenalter mit. Es entsetzt mich zu sehen, wie sich junge Menschen immer früher mit dem Virus des Glaubens an den perfekten Lebenslauf infizieren. Ein beeindruckender Lebenslauf und ein erfülltes Leben sind zwei sehr verschiedene Dinge. Von den vielen großartigen Menschen, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte, konnte kein einziger einen makellosen Lebenslauf vorweisen – ganz im Gegenteil:
    Paulo Coelho wurde von seinen Eltern zweimal in die Psychiatrie eingewiesen, musste die Folter durch die brasilianischen Militärs überwinden, wurde als Songschreiber populär, um dann nach langen Jahren der Suche und auch der Verirrungen mit seinem „Alchimisten“ den Grundstein zu einem der meistgelesenen Autoren der Welt zu legen. Tenzin Palmo, eine Engländerin, die als 18-Jährige den Buddhismus für sich entdeckte, sich nach Lehrzeiten bei tibetischen Mönchen zwölf Jahre in eine Höhle im Himalaya zurückzog, um dann das erste buddhistische Frauenkloster zu gründen und selbst zur weisen Lehrerin zu werden. Isabel Allende, geboren in Lima, Peru, aufgewachsen in Chile, Bolivien und dem Libanon, musste nach dem Militärputsch in Chile, bei dem ihr Onkel Salvador Allende getötet wurde, nach Venezuela flüchten. Als ihr Großvater mit 99 Jahren starb, begann sie Briefe zu schreiben. Diese Briefe waren die Basis für den Welterfolg „Das Geisterhaus“.

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