Meine letzte Stunde
Carl Djerassi, als Jude vor den Nazis in Wien geflüchtet, studierte Chemie in den USA, revolutionierte mit der Entdeckung der Pille das Leben der Frauen, widmete sich später den Künsten, schrieb Theaterstücke und Bücher. Der „Herr der Gene“, Craig Venter, langweilte sich in der Schule, ging lieber Surfen, was ihn übrigens mit Chemie-Nobel-preisträger Kary Mullis verbindet, und wurde dann als Sanitäter nach Vietnam eingezogen. Ihm gelang es als erstem Forscher, die menschliche DNA zu entschlüsseln und der Menschheit damit die Türen in ein völlig neues Zeitalter zu öffnen. Heute erforscht er auf seiner Jacht auf den Spuren von Darwin die Tiefen des Meeres, weil für ihn dort seit 3,8 Millionen Jahren der Stein der Weisen der Entschlüsselung menschlichen Lebens liegt. Der Name des Schiffes ist „Sorcerer“, das heißt Zauberer. Und diesen Zauber, der in uns allen steckt, müssen wir unser ganzes Leben gegen alle verteidigen, die uns den aus ihrer Sicht für uns besten Lebenslauf aufzwingen wollen.
Eltern, die in ihrer Jugend davon geträumt haben, ihren Leidenschaften zu folgen und Großes zu wagen, drängen jetzt in der Krise ihre eigenen Kinder dazu, etwas „Sicheres und Zukunftsweisendes“ zu studieren. Die Hälfte aller Nobelpreise in den Naturwissenschaften wurde übrigens an Forscher vergeben, die in Fachgebieten arbeiteten, die noch gar nicht existierten, als sie selbst studierten. So viel zum Thema „etwas Zukunftssicheres studieren“. Und an der These, dass Bankangestellter zwar meist ein ziemlich langweiliger, aber dafür sicherer Job ist, hat sich eher der erste Teil als krisensicher erwiesen. Noch vor wenigen Jahren galt Manager als einer der erstrebenswertesten Berufe. Die Realität sieht heute oft anders aus: Vollgestopfte Flüge um sieben Uhr früh in Städte, in die kein einigermaßen vernünftiger Mensch freiwillig fliegen würde, eingepresst in einen engen Sitz, Business für Manager in Europa gibt es schon lange nicht mehr, ein Stück Sondermüll als Frühstück, um seine E-Mails lesend dort seinen Job zu tun, an sinnlosen Meetings teilzunehmen, um darüber sinnlose E-Mails zu schreiben, ist das ein Leben? Mit wenigen Ausnahmen waren die Prognosen der Zukunftsforscher des Arbeitsmarktes ähnlich treffsicher wie die der Börsenanalysten. Über das papierlose Büro im Computerzeitalter, das man uns vor 20 Jahren vorhergesagt hat, kann heute jeder Angestellte nur lachen. Wir ersticken in Papier und E-Mails. Die Wahrheit ist, dass niemand eine Ahnung davon hat, wie unsere Zukunft aussehen wird. Prognosen sind meist falsch, besonders wenn sie sich auf die Zukunft beziehen …
Wir erhalten bei unserer Geburt leider keine Gebrauchsanleitung dafür, sinnvoll mit unserem Leben umzugehen. Wir können diese Fertigkeit aber lernen. Schenken wir Steve Jobs’ wichtigster Erkenntnis, die er im Angesicht seiner nahen letzten Stunde hatte, noch einmal kurz Beachtung:
Wir können die wichtigsten Punkte unseres bisherigen Lebens immer erst im Nachhinein verbinden, um zu erkennen, ob und was Sinn gemacht hat.
Wenn wir dem folgen, werden wir erkennen, wie oft es die Umwege, die Niederlagen, die Wege, vor denen wir die größte Angst hatten, waren, die zu unseren größten Erfolgen geführt haben. Das Streben nach Erfolg ist nichts Schlechtes, solange es unsere eigene Vorstellung von Erfolg ist. Die meisten laufen ihr Leben lang Erfolgsvorstellungen nach, die sie von anderen vorgegeben bekommen haben. „Auf einem Dampfer, der in die falsche Richtung fährt, kann man nicht sehr weit in die richtige Richtung gehen“, hat Michael Ende so wunderbar gesagt. Eine Lebensbilanz beginnt daher mit der Frage: Was macht mich aus?
Zeit, Bilanz zu ziehen. Warum nehmen wir uns nicht eine Stunde Zeit, um unser bisheriges Leben anzuschauen; nicht um in Vergangenheitsverklärung zu versinken, sondern um Gesetzmäßigkeiten darin erkennen zu können. Nennen wir es eine Zwischenbilanz: Denken wir an einige entscheidende Punkte in unserer Vergangenheit wie Siege, Niederlagen, Verletzungen, Wendepunkte, Erfolge, Krankheiten, Schicksalsschläge und suchen wir die Bedeutung dahinter. Gehen wir einmal davon aus, dass nicht alles Zufall war, sondern dass es einen roten Faden gibt, der diese Punkte verbindet. Machen wir uns auf die Suche nach dem „Da Vinci Code“ unseres Lebens. Ich möchte nicht zu etwas auffordern, das ich nicht selbst versucht habe. Hier ist das Beispiel, wie ich es angegangen bin.
In 30 Jahren
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