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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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oder das Glücksspiel ihm Zuflucht vor seiner großen Einsamkeit gewähren. Da erinnert er sich an eine der vielen Akten, die er als Leiter der Beschwerdeabteilung in das sich mit unendlicher Langsamkeit drehende Räderwerk der alles zermalmenden Bürokratie weitergeleitet hatte: Es war das Ansuchen, einen von Moskitos verseuchten Tümpel, der die spielenden Kinder krank machte, zu beseitigen und darauf einen echten Spielplatz zu errichten. Dieses eine Aktenstück mit den Beschwerden der Mütter, die er bisher mit stoischer Teilnahmslosigkeit abgewimmelt hatte, wird plötzlich zum wichtigsten Anliegen seines nur mehr sehr kurzen Lebens. Je mehr er körperlich verfällt, umso größer wird der Glanz in seinen Augen, umso mutiger kämpft er für etwas, von dem er spürt, dass es seine letzte Chance ist, seinem Leben doch noch Sinn zu geben: Ein einziges Mal will er etwas verändern und nicht nur verwalten.
    Die eindringlichen Schwarz-Weiß-Bilder von Kurosawas stillem Meisterwerk „Einmal wirklich leben“ entfalten eine Wirkung, der man sich vom ersten Augenblick an nicht entziehen kann. Keinerlei unnötige Spannungselemente lenken von dem Thema ab, das so existenziell ist, dass es uns direkt ins Herz trifft. Es ist die Frage, ob man einem bedeutungslosen Leben doch noch Sinn geben kann. So fremd uns auch Japan und dieser seltsame Herr Watanabe sein mögen, wir fühlen uns ihm verbunden, wir leiden mit ihm und wir wachsen mit ihm. Herr Watanabe wird nicht wie durch ein Wunder gerettet, sondern er stirbt genau zum erwarteten Zeitpunkt an Magenkrebs. Er wird eines Morgens auf seinem gerade fertiggestellten Spielplatz auf einer Schaukel sitzend von einem Polizisten gefunden. Kurosawa will uns nicht sagen, dass wir durch ein großes Ziel den Tod überwinden können, sondern etwas viel Wichtigeres: Dass es nie zu spät ist. Auch in seinen letzten sechs Monaten kann man noch etwas Bedeutendes tun. Dann wird der Blick auf das eigene Leben sanftmütiger ausfallen, denn es bleibt doch etwas von einem. Es ist nicht die kleine Erbschaft, die Herr Watanabe seinem undankbaren Sohn und der gierigen Schwiegertochter hinterlässt, es sind die Gedanken der Mütter, die genau wissen, wem sie den Spielplatz verdanken, auf dem jetzt ihre Kinder glücklich spielen können. Sie sind es auch, die nicht zulassen, dass der ehrgeizige Bürgermeister diesen im Nachhinein im Wahlkampf für sich reklamieren kann.
    Die Geschichte des Kanji Watanabe ist eine erfundene, die aber deshalb beeindruckt, weil sie so lebensähnlich ist, weil sie genau so hätte passieren können. Wie jede gute Geschichte ist sie eine Behauptung über das Leben: Es ist nie zu spät.
    Der stolzeste Maturant
    Das Thema, das Phillip Höfner bei seiner Deutschmatura wählte, war die „Türhüterlegende“ aus Franz Kafkas Roman „Der Prozess“. Sie handelt von einem Mann vom Lande, dem der Zugang zum Gesetz durch einen Türhüter verwehrt bleibt. Nachdem jedoch der Türhüter die Möglichkeit eines späteren Eintritts in Aussicht gestellt hat, verbringt der Mann den Rest seines Lebens damit, vor dem Eingang zu warten. Knapp vor seinem Tode, schon fast blind, sammeln sich in seinem Kopf alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher dem Türhüter noch nicht gestellt hat: „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ Phillip sieht sich selbst in dem alten Mann, der seinem Schicksal ohnmächtig ausgeliefert ist, während der Türhüter die höhere Macht repräsentiert, deren Gesetze einem Sterblichen immer verschlossen bleiben werden.
    Die Geschichte des Maturanten Phillip Höfner ist kein Märchen wie jene von Kanji Watanabe. Hier geht es um einen jungen Menschen, der das ganze Leben scheinbar noch vor sich hatte, der nichts falsch gemacht hatte, der nichts verschwendet hatte, der sich nichts vorzuwerfen hatte.
    Phillip war 16 Jahre, als man bei ihm einen Krebs fand. Zuerst hieß es, dass er eine sehr gute Chance auf Heilung hätte. Er absolvierte die 10. Schulstufe, danach kam es immer wieder zu Rückfällen. Zwei Jahre machte er eine Hochschaubahn von Hoffnungen und bitteren Enttäuschungen durch, bevor

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