Meine letzte Stunde
Sinn für unser Leben geben, sondern dieser setzt sich aus Bausteinen zusammen, die sich im Lauf der Zeit immer wieder ändern können. So entsteht Sinn durch das Setzen und Erreichen von immer neuen Zielen. Watanabe kämpft für seinen Kinderspielplatz, für Phillip Höfner wird die Matura zur Hoffnung, dass es vielleicht doch weitergeht. Doch Ziele allein reichen bei Weitem nicht aus. Wir brauchen eigene Wertvorstellungen, die uns in den Krisenzeiten helfen, unserem Leben Halt zu geben. Das können Religionen, Ideologien, Philosophien oder ein individuell zusammengemischter Cocktail aus all diesen Bestandteilen sein. Zielsetzungen und eigene Wertvorstellungen haben ihrerseits nur Sinn, wenn sie von der Erfahrung getragen werden, dass man seine Geschicke auch selbst beeinflussen kann und nicht völlig willkürlich den Kräften anderer oder des Schicksals ausgeliefert ist. Aus all dem zusammen entsteht das Gefühl, dass unser Leben Bedeutung und Wert hat, dass wir anerkannt werden für das, was wir sind und tun. [1]
Das Gefühl, den Sinn verloren zu haben, lässt sich nicht dadurch lösen, dass man beginnt, den einen Sinn seines Lebens wie einen verlorenen Schlüssel zu finden. Jeder Versuch, den individuellen Sinn seines Lebens auf einer abstrakten Ebene wiederentdecken zu wollen, führt nicht zum Sinn, sondern ins Absurde. Sinn ist immer eine konkrete Erfahrung, die eben nur über Beruf, Liebe, Familie, Kunst, Wissenschaft, Pflichten, Neigungen, Mitgefühl, Engagement usw. empfunden werden kann. [2] Der Sinn des Lebens ist das, was man aus den vielen Möglichkeiten, die einem das Leben bietet, macht, oder wie Albert Camus formuliert: Die Antwort auf die Frage, ob sich das Lebe lohne, hängt mehr an den nächsten Dingen als an den letzten .
Es ist die Blindheit oder die Verneinung gegenüber diesen Möglichkeiten, die uns in manchen Augenblicken an dem Sinn unseres Lebens zweifeln lässt. Dann müssen manche vielleicht erkennen, dass trotz der mit so viel Anstrengung erreichten Ziele wie Status, Wohlstand und Familienglück ein Gefühl der Leere entstehen kann. Oder es bricht einfach einer der wesentlichen Bausteine bei einer Scheidung oder einem Jobverlust plötzlich weg und dieser Verlust wird so schmerzhaft empfunden, dass er alles in Frage stellt. Denn bewusst oder unbewusst wird man daran erinnert, dass irgendwann der größte Verlust stehen wird. Wenn wir uns vor allem über unsere Nützlichkeit und Unersetzbarkeit definiert haben, ist das gesamte mühsam errichtete Bildnis von uns selbst massiv einsturzgefährdet, sobald wir erkennen, dass niemand unersetzbar ist, schon gar nicht wir selbst. Die entscheidende Frage lautet daher: Wenn wir den scheinbaren Zweck unseres Lebens erfüllt haben oder wenn wir diesen nicht mehr weiter ausfüllen können, wie kann unser Leben dann noch weiter Sinn haben?
Unsere Lebensaufgabe oder die acht Stufen des Lebens
Die erste Hälfte unseres Lebens sind wir sehr von der Frage „Was will ich vom Leben?“ getrieben. In der zweiten Lebenshälfte gewinnt eine andere Frage immer stärkere Bedeutung für uns: „Was will das Leben von mir?“ Ersteres erfordert den Mut, seine Stimme zu erheben und für seine Ziele zu kämpfen, Letzteres die Bereitschaft, genau hinzuhören.
Die Fähigkeit, zwischen dem, was wir vom Leben wollen, und dem, was das Leben von uns will, unterscheiden zu können, ändert sich mit zunehmender Reife. Diesen psychosozialen Entwicklungsprozess hat der deutschamerikanische Psychoanalytiker Erik
H. Erikson in seinem Acht-Stufen-Modell schlüssig beschrieben. [3] Für Erikson entwickelt sich die menschliche Identität in dem ständigen Spannungsfeld zwischen unseren Bedürfnissen und Wünschen auf der einen Seite und den sich im Lauf der Entwicklung permanent verändernden Anforderungen der sozialen Umwelt auf der anderen. Innerhalb seiner Entwicklung durchläuft der Mensch phasenspezifische Krisen und Konflikte, welche durch die Konfrontation mit den gegensätzlichen Anforderungen und Bedürfnissen ausgelöst werden.
Jede der acht Stufen stellt einen Konflikt dar, mit dem das Individuum sich aktiv auseinandersetzen muss. Die Bewältigung dieser Konflikte bezeichnet Erikson als Entwicklungsaufgabe. Ich werde mich in dieser Darstellung auf die 6. bis 8. Stufe konzentrieren, weil sich die große Mehrheit der Leser dort wiederfinden sollte. Sie können selbst beurteilen, wie weit Sie sich mit der Stufe, die Ihre gegenwärtige Lebensphase beschreibt,
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