Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
Vom Netzwerk:
ihm die Ärzte eine ungeheuerliche Botschaft mitteilen mussten: „Wir können nichts mehr für Dich tun.“ Er nahm diese ohne jede Reaktion an, fuhr sofort zu seinen Kollegen in die Schule und teilte diesen seine Entscheidung mit, dass er trotz dieser Diagnose weiter am regulären Unterricht teilnehmen werde. Phillip mobilisierte außerordentliche Energien und trat trotz einer Vielzahl von auftretenden schmerzhaften Folgeerkrankungen wie Gürtelrose zur Matura an. Die Matura oder das Abitur, wie es in Deutschland heißt, bescheinigt einem jungen Menschen die Reife, selbst die Verantwortung für seine Zukunft zu übernehmen. Die 25 Mitschüler von Phillip wurden zu einer Schicksalsgemeinschaft, die vor allem menschlich sehr reifte. Einer, der um sein Leben kämpft, forderte den anderen Schülern eine „Reifeprüfung“ ab, die weit über die sonst üblichen fachlichen Anforderungen hinausging. Während der mündlichen Prüfungen war Phillip so schwach, dass er sieben Stunden im selben Raum bleiben musste, weil er nicht fähig war, das Stockwerk zu verlassen.
    Man kann sich wohl kaum die Gefühle vorstellen, mit denen Phillip fünf Stunden an der „Türhüterlegende“ arbeitete. Nach bestandenem Abschluss bat man ihn, die Rede im Namen aller Maturanten zu halten. „Ich bin der stolzeste Maturant von ganz Österreich“ war sein erster Satz. Die meisten jungen Menschen täten ihm sehr leid, weil sie nicht wüssten, was sie vom Leben wollten, sagte er. Er selbst kenne seine Ziele ganz genau, nämlich gesund zu werden, zu studieren und weiterzuleben. Er gab die Hoffnung nie auf, obwohl man ihm offen im Spital gesagt hatte, dass er keine Chance hätte. Erst hätten sie ihm gesagt, dass alles gut gehen werde, jetzt war auf einmal alles anders, warum sollten sie auf einmal recht haben? Er haderte nie mit seinem Schicksal und fuhr noch mit seinen Kollegen auf Maturareise, allein, ohne Lehrer. Alle seine Kollegen wollten, dass er mit ihnen mitfährt, wissend, welche Verantwortung sie damit übernehmen müssten, und dass das keine Maturareise nur mit Sonne und Spaß werden würde. Drei Monate danach verstarb er. „Er war ein ganz toller junger Mann“, sagt seine Lehrerin Gertraud Fädler über ihn und man spürt, wie sehr Phillip noch heute in ihren Gedanken weiterlebt.
    In jenem Augenblick, wenn ein Mensch erkennt, dass sein Leben ein Ablaufdatum hat, eine „deadline“, wie es im Englischen heißt, gewinnt er offenkundig große Klarheit über das, was noch zu tun ist, völlig unabhängig davon, wie lange er bis dahin schon gelebt hat. Für Herrn Watanabe wird auf einmal der bis dahin verborgene Sinn seiner bürokratischen Routinearbeit sichtbar, aus der stupiden Pflichterfüllung wird eine konkrete Aufgabe, die er heroisch bis zu seinem Ende erfüllt. Die Matura wird für Phillip zu einem verheißungsvollen Ziel, dessen Erreichen ihn hoffen lässt, dass es auch danach weitergehen wird.
    Natürlich reizt es zu Widerspruch, das fiktive Leben eines älteren japanischen Beamten und das eines tatsächlich tragisch verstorbenen 18-jährigen Schülers zu vergleichen. Als Außenstehender kann man sein Urteil darüber abgeben, ob in dem einen Fall das Schicksal besonders grausam war und im anderen – na ja, der war ja doch schon alt … Doch was ist mit uns selbst? Wäre der jetzige Zeitpunkt gerecht, richtig, fair, um aus dem Leben gerissen zu werden? Die Wahrheit ist, wir, die wir uns der Endlichkeit unseres Seins zwar vielleicht theoretisch bewusst sind, aber diesen Zeitpunkt irgendwann in unbestimmter Ferne sehen, stellen uns die Frage nach dem Sinn meist nur in Lebenskrisen, in Phasen der Leere und großen Unzufriedenheit. Die Frage, ob das Leben einen Sinn hat, stellen nie die „Befristeten“, sondern jene, die den Wert des Lebens nicht mehr zu erkennen glauben, weil es ihnen selbstverständlich erscheint.
    Warum man den Sinn des Lebens nicht wie einen verlorenen Schlüssel suchen kann
     
    Es ist leichter, zum Mars vorzudringen, als zu sich selbst.
    C. G. Jung
     
    Die Beurteilung der Sinnhaftigkeit des Lebens ist eine schwankende Größe. Es sind primär die Phasen der Erschütterung, in denen wir den Sinn zu suchen beginnen. Wenn wir uns gut fühlen, wenn wir lieben und geliebt werden, zweifeln wir selten am Sinn unseres Lebens. Es sind die Stunden der Einsamkeit nach schweren Enttäuschungen und Niederlagen, in denen wir den bis dahin sicher geglaubten Sinn wieder in Frage stellen.
    Es kann daher nicht den einen

Weitere Kostenlose Bücher