Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
Vom Netzwerk:
Heute hasse ich Nachtarbeit, damals aber, 1969, war künstlich hergestellte Nachtschicht durch Gardinen zuziehen einfach nur fetzig.
    Natürlich hatte ich auch ein ferngelenktes Auto vom Weihnachtsmann bekommen. Einen Fiat. Wartezeit: ein halbes Jahr. Ja, nur ein halbes Jahr für einen Fiat Coupé. Ein Wunder!
Bitte sich vorzustellen: Während Erwachsene acht Jahre auf einen Trabant oder Wartburg warten mussten, hatte mein Weihnachtsmann ein Einsehen und schenkte mir diesen orangeweißen, zweifarbig lackierten Wahnsinnswestschlitten ohne längere Wartezeit. Ferngesteuert, mit Hupe und Schiebedach, fuhr ich gern zwischen Indianerburg und Flur zur Küche, Pfefferminztee nachtanken. Und so sehr ich mich auch anfangs freute über meinen Fiat Coupé – immerhin besaß ich etwas, wovon andere Kinder, nein ganze Familien, nur träumen konnten: ein Auto – so hatte dieses formschöne Westvehikel einen entscheidenden Nachteil, nein, mehrere Nachteile: Ständig war die Batterie runter, und das Auto hatte eine Schnur zum Lenken, fuhr ergo doch nicht selbstständig und: Es leuchteten keine Kolben, die sich beim Fahren auf und nieder bewegten, also richtig arbeiteten, kurz – das Auto lebte nicht so wie Heiko Taders Raupe. Und an Kaupeln war nicht zu denken. Unbezahlbar! Ich glaube, dies war meine Geburtsstunde des Neids.
    Und während wir nun, Heiko und ich, fachsimpelten und verhandelten, ob die Lakritzstangen heute noch ausgewickelt werden sollten oder erst morgen, rief meine Mutter aus dem geöffneten Hinterhausküchenfenster: »Lommel, beeil dich, wir müssen auf den Friedhof!« Können Sie sich einen größeren Bruch im Leben eines im Spiel versunkenen Kindes vorstellen? Und bitte, was ist denn das für ein Satz? »Beeil dich, wir müssen auf den Friedhof!« Im Laufschritt zum Grab, oder was?
    Ich war ein Kind, sogar ein Kind des Sozialismus, wieso rief mich der Herr, äh, meine Mutti, »beizeiten« sozusagen auf den Gotttesacker? Was hatte ich verbrochen, dass meine Ruhe derart gemein zerstört wurde? Außerdem duldeten die Lakritzstangen keinen Aufschub, und so rief ich, allen Mut zusammennehmend: »Bitte, lass mich erst fertig spielen!« Oh,
das war sehr mutig, denn Fertigspielen konnte dauern, wer weiß wie lange, und es war offener Widerspruch. Meine Mutti kannte ihren Lommel und flötete zurück: »Komm, du kannst morgen weiterspielen, beeil dich, sonst sind die Gottesaugen alle. Und Opa freut sich doch auch.«
    Moment mal, wieso freut sich Opa? Er war es doch, der auf dem Friedhof lag; ich will nicht sagen, tot, aber war es nicht so? Wie kann sich jemand über Gottesaugen freuen, die er von unten gar nicht sehen konnte? Oder meinte Mutti, Opa hatte die Draufsicht, sah quasi aus dem Himmel auf sein Grab, auf seine Gottesaugen und ob auch ja alle kamen, ihn zu besuchen?
    Überhaupt der Friedhof: Der Markusfriedhof war ein regelrechter Lebensraum für Kinder wie mich. Schon als Kind spielte sich die gefühlte Hälfte meines Lebens auf ebendiesem Friedhof ab. Ja, in unserer Familie herrschte ein regelrechter Wettbewerb, wer, wann, wie oft auf dem Friedhof war, um Opa zu besuchen. So viel Aufmerksamkeit wurde meinem Schneeweiß-Opa zu Lebzeiten nicht entgegengebracht. Mutti und meine Schwester versicherten sich gegenseitig, im Gleichstand mit der Anzahl der Besuche zu sein.
    Das lief dann ungefähr so ab: »Warst du die Woche schon?«, fragte misstrauisch die eine. »Ja, am Freitag«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Und du hast schon die Gottesaugen gepflanzt?« »Ich geh morgen. Lass ma, ich leg es erst mal aus. Dafür kannst du ja nächste Woche gießen, es soll heiß werden.« »Ne, ne, ich bezahl dir gern die Hälfte dazu, ich kann nächste Woche nicht auf den Friedhof, mir wolln zu de Tschechen.«
    »Nu, und wer gießt da in der Zwischenzeit? De Oma?« »Die hab ich schon gefragt, aber die kann so schlecht fort . . . Außerdem hat se abgewunken. Lass ma, sachtse, ich liesch noch früh genug dort.« »Nu, und dor Uwe?« »Alleine? Ne, ne,
der Junge is sieben. Weißte was, de Woche droff hol ich ihn gleich nach’m Mittagsschlaf aus’m Kinderhort ab und dann gehn wir hin. Schnurstracks.« »So mach’n morsch«, antwortete versöhnt meine Mutti. Und ich freute mich auf nächste Woche. Mittagskind, und danach gleich auf ’n Friedhof. Was konnte es Schöneres geben im Leben?
    In der Zwischenzeit, also zwischen Raupe und Friedhof, träumte ich gern und beständig von Butterschnitte mit Erdbeeren. Ja, im

Weitere Kostenlose Bücher