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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
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Winter träumte ich vom Sommer und im Sommer vom Winter und seinen Gerichten.
    Ein regelrechtes Gedicht war besagte Butterschnitte mit Erdbeeren, die es ab dem ersten Juni, dem Kindertag, dem Internationalen, gab.
    Und ich spreche hier von echten Erdbeeren, Marke »Mieze Schindler«. Das sind die, die gleich nach der »Kehre« vom Westen geraubt und uns heute als »echte« Neuzulassungszüchtung stolz als Westgewächs präsentiert werden. Mal ganz davon abgesehen, dass auch die Deutsche Demokratische Republik »Mieze Schindler« nicht entdeckt hatte, denn diese wurde gezüchtet in den Goldenen Zwanzigern.
    Mein Opa würde jetzt wieder sagen: »Was versteht der Ochse vom Sonntag, wenn er alle Tage Heu frisst?!«
    Aber zurück »in« 1972. Als einer der schönsten Lebensumstände meiner Kindheit in Alttrachau, dem Gegenentwurf zum Weißen Hirsch, bleibt mir noch heute festzuhalten: Ich hatte eine tolle Kindheit, denn ich durfte genießen.
    Sie schmeckte – nach echten Erdbeeren.
    Das kleine Evangelium: »Butterschnitte mit echten Erdbeeren«.
    »Sozialistische Erdbeeren«, die näher rückten mit jedem erfolgreichem Abbiss von der Buschnie. (Butterschnitte)
    Erdbeeren, die auch noch so aussahen und nach Erdbeeren schmeckten.
    Und heute? Wohin man schaut, überall nur Schein. Der Schein bestimmt das Bewusstsein.
    Wachstum, Wachstum über alles! Bei uns wuchsen Erdbeeren noch auf Feldern, und mit Erde dran, daher auch der Name.
    Manche Erdbeeren heute haben nie Erde gesehen, weswegen sich der Name von vornherein verbietet, und in ihrer Konsistenz erinnern sie eher an Radieschenkerne, tschechische, und sie schmecken auch so.
    Kleiner Tipp vom Fachmann: Eine Erdbeere, die nicht nach Erdbeere riecht, ist keine Erdbeere und schmeckt auch nicht. Nur was riecht, schmeckt.
    Neulich fragte mich ein Journalist aus der Bundesrepublik: »Lieber Herr Steimle, haben Sie noch Träume?« Der Ohnmacht nahe, ob so einer dussligen Unverschämtheit – ich werde im nächsten Jahr 50 – dachte ich nur: »Denn sie wissen nicht, was sie fragen … sollen.« So antwortete ich, mich beherrschend: »Oh ja!! Ich habe einen Traum. Ich träume davon, dass holländische Gemüsebauern ihre Tomaten selber fressen müssen.«
    Übrigens, und weil wir gerade dabei sind: Zum DDR-Bürger wurde ich erst durch die Bundesrepublik.

Lebensgefahr
    Zu den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit gehört der Besuch der Fähre in Pieschen. Ja, die Pieschener Fähre war immer ein Ausflugsziel. Sie fuhr vom Schlachthof rüber und nüber, und für den großen Überfahrtspreis von 20 Pfennig hatte ich das Gefühl eines 5-Minuten-Urlaubs. Dampfer fahren, pah, das konnte jeder! Aber Fähre tuckern . . . Alleine das war aufregend. Und dies eierschalenfarbene Boot mit der kasslerbraunen Bauchbinde und der blank gescheuerten Silberkette fuhr des Öfteren nur für mich. Meist saß ich ganz hinten, um die Schiffsschraube zu beobachten, die das kaffeemilchbraune Elbwasser zu Schaum verarbeitete und an den Schwänen vorbei gen Schlachthof stieß.
    »Achte auf die Strudel«, warnte meine Mutti oft. »Wenn du mal in die Elbe fallen solltest, Uwe . . . meide die Strudel und Drehlöcher!« Die waren allergefährlichst. Warum? »Sie ziehen dich mit hinunter auf den Elbegrund. Versuche also ja nicht, in dem Moment, wo der Strudel dich erfasst hat, wild um dich zu schlagen. Uwe, hörst du, folge dem Strudel bis auf den Flussgrund und stoße dich dann entgegen der Strömung vom Elbebett wieder nach oben ab. Du schaffst das!« Meine Mutti beschrieb all dies so plastisch und haarklein, dass ich den Eindruck haben musste, sie sprach aus eigener Erfahrung, probte womöglich zweimal die Woche für meinen Ernstfall. Noch heute träume ich regelmäßig und panisch von diesen Elbdrehlöchern und meinem Abtauchen auf den Schicksalsgrund des Flussbettes.
    Erst letzte Woche, meine Tochter Nina und ich paddelten wunderbar und seelenruhig auf der Unstrut bei Freyburg, kam uns ein Ausflugsdampfbötchen entgegen, und kaum
wurde dieses Ungetüm sichtbar, schrie ich das arme Kind an: »Achte auf die Drehlöcher, und wenn du über Bord gehen solltest, lass dich nach unten ziehen – abstoßen vom Flussgrund in entgegengesetzte Richtung, und, Nina, immer mit dem Strudel, hörst du. Gib dich ihm hin!«
    »Hä?« Nina, vorn sitzend, drehte sich nur seelenruhig um, schaute mich entgeistert an und ließ es nur tropfen: »Alles klar, Papa?«
    Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt: Alles über

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