Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)
für lange Jahre ein.
Die Backstube von Bäckermeister Wehner betrat ich mit derselben Ehrfurcht, mit der ich auch das Grüne Gewölbe aufsuchte.
Mit nunmehr 49 Jahren darf ich jetzt wieder »hintendrein«. Als Kind waren es für mich die Kuchenränder, die glücklich machten. Heute sind es die Dialoge, ist es die geistige Nahrung, an der ich mich laben darf.
Neulich empfahl ich meinem Bäcker, doch die Preise ein bisschen anzuheben, grade für Semmeln. »In Berlin«, schimpfte ich, »kostet das Teil mitunter 50 Cent«. – Also eine D-Mark oder umgerechnet vier Mark Ost für eine Semmel. Ja, ja, Inflation – die Inflation geht durch den Magen (schlägt auf denselbigen.) Außerdem sind in Berlin die Körner außen dran und fallen ab, wenn ich reinbeiße. Über den Geschmack der Schrippen möchte ich erst gar nichts Ungenießbares sagen. Dann sorgen auch noch die Stabilisatoren dafür, dass auch nach drei Tagen das Teil nicht zusammenrutscht und somit »frisch« und haltbar bleibt. Oh Herr, wenn der Mensch wirklich ist, was er isst, was ist er dann in Berlin?
Ich schweife ab vom Dialog mit meinem Bäcker. Der betreibt übrigens den letzten altdeutschen Backofen in Dresden. Dieser einzigartige Wärmespender wird mit Kohle gefeuert, mit guter tschechischer Braunkohle. Viel Schwefel, deshalb werden die Semmeln auch so schön goldgelb und feucht. Weil Kohle viel Wasser enthält.
Nein, das war jetzt natürlich geflunkert, um die Aufmerksamkeit auf diesen, mit Schamotte fein gemauerten und noch mit Sand abgedeckten Ofen zu lenken. So gebaut, gibt er die Hitze schön langsam ab, damit mir meine Semmeln schmecken.
Bin ich »zweifelnd« über den Zustand der Welt oder über meinen eigenen, dann gehe ich in die Backstube nach Oberpoyritz, und dabei erhole ich mich, gesunde und werde wieder »dlar im Gobbe«. Ein Besuch in der Backstube erspart mir
einen Kirchgang, und der heilige Geist ist ein lebendiger, ’s ist mein Bäcker.
Nun sollen Sie erfahren, weshalb die ganze Vorrede notwendig war und des Bäckers Antwort sich erst jetzt entfalten darf. (Schön langsam, wie bei der Hefe!)
Als ich nun den Bäcker ermutige, den Preis für’s Gesamtkunstwerk »Semmel« anzuheben, tritt dieser verschämt und sich entschuldigend zur Seite: »Herr Steimle, ich hab’s doch versucht, aber die Kunden kommen doch schon mit abgezähltem Geld.«
Was für ein Satz! Den kann kein Drehbuchautor aufs Papier bringen. Den kann sich kein Schriftsteller ausdenken. Mein Bäcker spricht den Satz so halb verlegen, nebenher weg. Ohne viel Aufhebens um sich und seinen Berufsstand.
Philosophischer Backstubenzuckerguß!
Da ist Poesie und da ist Wahrhaftigkeit! Gleichwohl wissend, was er sagt, doch nie die Wirkung berechnend.
Mein Bäcker, der seit 40 Jahren tagaus, tagein allein knetet, rührt, mengt, ist ein Vorbild für mich. Er ist mein entdecktes Beispiel für Volksfrömmigkeit im 21. Jahrhundert. Nicht nur an der Schwelle, mittendrin in der Lebensbackstube.
Bald bäckt er wieder Stollen. Mal sehen, welche Weisheiten er in diesem Jahr in den Stollenteig gibt. Und mal sehen, ob ich sie erkenne.
Das feierliche Grau des Theodor Rosenhauer
gesehen im Bild »Alttrachau vor Abbruch im Winter«
Denn: Grau, teurer Freund, ist … alle Praxis. Mein Gott, was war Theodor Rosenhauer für ein grandioser Graumacher! Nein, ich bleibe dabei, ein »Graumacher«. Mir ist’s, als hätte er es erfunden, das warme, feierliche Grau.
Und war es nicht Cezanne, der einmal sagte: »Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler.« So gesehen war Dresden nach dem Kriege der Städte reichste, was das Grau anbelangt, und Rosenhauer war der Allerreichste, unbedingt im Grau. Er schöpfte es förmlich, dieses fröhlich Schmutzige. Doch, doch, ich werde es Ihnen beschreiben, und zwar anhand eines Bildes: »Alttrachau vor Abbruch im Winter«.
Das erste Licht begrüßt den Tag. Gespeichert hat es der alte Matscheschnee nächtens, und nun, zur Morgenstunde, gibt er es frei. Dieser verbackene Winterrest erstrahlt in Altrosa bis Ockergrau. Masse einmal anders. Materie im Feierlichen. Und nie habe ich Schnee, noch dazu gemalten, als so warm empfunden wie auf diesem 1977 gemalten Altarbild. Gemalte Religiosität strahlt über den Tag hinaus.
Wir sehen eine zermatschte Spur, die offensichtlich das alte orange Ascheauto hinterlassen haben muss, denn die Spur zeugt vom Nachlass längst verlorener Asche.
Ja, ja, an Streugut herrschte kein Mangel. Asche hatten wir
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