Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)
rechtzeitig ankommt. Und diesmal kann Mr. Walker ihr nichts verbieten, weil die Uni nach Weihnachten geschlossen ist. Ich wollte, dass der Brief richtig wichtig klang. Ich hatte geschrieben Einmalige Chance , was ich in der Werbung gehört hatte, und Komm nach Manchester, um ein neues Leben zu beginnen , was ich aus dem Brief geklaut hatte, und Bitte, Mum, ich muss dich unbedingt sehen , was ich mir selbst ausgedacht hatte.
Ich kann nicht glauben, dass ich mich echt darauf einlasse , sagte Jas, als wir im Wohnzimmer auf Leo warteten. In meinem Horoskop von heute stand, dass ich keine Risiken eingehen soll . Sie legte die Hand auf die Brust und atmete nervös ein. Lass uns noch mal proben , sagte ich und schaute auf ihre zitternden Hände. Wir flüsterten die Worte und machten die Tanzschritte, aber Roger war aufgewacht und uns überall im Weg. Er strich mir ständig um die Beine, so dass ich nicht springen, stampfen oder um Jas herumrennen konnte, wie ich es in der ersten Strophe machen musste. Er nervte mich, aber ich sagte anfangs nichts zu ihm. Erst als ich über seinen glitzernden Schwanz stolperte, rastete ich aus. Ich beugte mich zu ihm runter, und er schaute mich so hoffnungsvoll an, als würde ich ihn streicheln. Aber ich nahm ihn nur hoch, trug ihn raus in den Flur und machte die Tür zum Wohnzimmer zu. Er miaute eine Weile draußen herum, irgendwann wurde ihm aber anscheinend langweilig, und er verzog sich.
Er ist da , quietschte Jas. Ein blaues Auto hielt vor dem Haus. Jas zupfte an ihrer neuen Frisur herum und fragte Sieht das gut aus . Ja , sagte ich, obwohl ich sie ziemlich sonderbar fand. Jas hatte sich gestern Abend die Haare braun gefärbt, und jetzt hatte sie zwei kleine Zöpfe. Sie sah Rose unheimlich ähnlich. Ich weiß, dass die beiden eineiige Zwillinge waren, aber Jas sieht inzwischen wie Jas aus. Als wir zu Leo ins Auto stiegen, kam es mir vor, als sei Rose’ Geist von dieser Wolke im Himmel runtergekommen, und ich vermisste Jas’ Piercings, die rosa Haare und die schwarzen Klamotten. Jas trug jetzt ein Blümchenkleid, eine Strickjacke und flache Schnallenschuhe, diese Sachen, die Mum ihr zuletzt in London gekauft hatte. Ich hatte immer noch mein Spider-Man-Shirt an, weil Mum enttäuscht sein würde, wenn sie es nicht an mir sehen würde. Ich hatte es mit einem Handtuch abgerieben und den zerrissenen Ärmel mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckt.
Leo zog die Augenbrauen hoch, als er Jas sah. Sie schaute ihn nervös an und sagte Ist nur für heute , und Leo schien erleichtert zu sein, sagte aber Sieht süß aus . Jas lachte, und Leo lachte, und weil ich mich ausgeschlossen fühlte, lachte ich auch. Dann fuhr Leo los. Er fuhr schnell, weil es nur hundertfünfzig Auftritte geben konnte und man der Reihe nach drankam. Wir rasten zwischen Bergen durch und an Farmen vorbei, fuhren Abhänge hoch und schlängelten uns über kleine Landstraßen. Die Sonne ging auf, und einmal fuhren wir direkt darauf zu, und das Auto war voll gelborangem Licht, und ich fühlte mich warm und behaglich, wie in einem Eigelb oder so. Und alles sah schön aus und fühlte sich nach Hoffnung an, und plötzlich konnte ich es kaum mehr erwarten, auf der Bühne zu stehen.
Als wir ankamen, trat ein Mädchen mit einem Klemmbrett auf uns zu und fragte Womit wollt ihr auftreten . Jas antwortete Wir singen und tanzen , und das Mädchen seufzte, als hätte sie noch nie was Langweiligeres gehört. Sie gab uns die Nummer hundertdreizehn und sagte Um fünf seid ihr dran. Ihr habt drei Minuten Zeit auf der Bühne. Oder weniger, wenn die Jury euch nicht gut findet . Ich schaute auf die Uhr an der Wand. Es war zehn nach elf.
Der Warteraum war voller Leute. Clowns, die mit Früchten jonglierten, zwanzig Mädchen in Tutus, fünf Frauen mit Hunden, die Kunststücke vorführen konnten, neun Zauberer, die Tiere aus Hüten zogen, und ein Messerwerfer mit Tätowierungen, der einen Apfel mit einer Klinge zerschneiden konnte, die er zwischen den Zähnen hielt. Jas und ich setzten uns auf zwei freie Holzstühle in der Mitte des Raums und warteten.
Die Zeit verging schnell. Zweimal pro Stunde probten wir unseren Auftritt. Und es gab so viel zu sehen und zu überlegen, dass der Zeiger der Uhr jedes Mal um eine halbe Stunde weitergesprungen war, wenn ich hinschaute. Ich stellte mir vor, wie Dad den Brief neben seinem Bett fand, in die Dusche rannte und sich was Schickes zum Anziehen aus dem Schrank holte. Ich stellte mir vor, wie Mum sich ein
Weitere Kostenlose Bücher