Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
zu sein, diejenigen Mechanismen zu begreifen, die zählen.
Von dem Gefühl, einer zu sein, der immer nur über vollendete Tatsachen sprechen kann, weil er zwar dabei war, aber nicht kapiert hat, was eigentlich genau los war (weshalb er es gesellschaftlich auch nie zu etwas bringen wird – er darf maximal den Schaden beziffern oder dafür aufkommen. Mit ganz viel Glück vielleicht auch irgendwas Analytisches zum Sachverhalt sagen).
Erfolg, Karriere, Bereicherung, Politik, alle Kategorien, die zählen, beruhen im Wesentlichen auf dieser Unterscheidung zwischen Leuten, die live mitkriegen, was läuft, und denen, die über das nachdenken, was in der zeitversetzten Übertragung davon übrig bleibt.
Im Anwaltsberuf geht es nicht darum, sich Mühe zu geben, sondern rasch zu begreifen. Wenn dir diese Schnelligkeit und geistige Flexibilität abgeht, stehst du außerhalb der Wirklichkeit, in der Entscheidungen gefällt werden, und du wirst dich denen der anderen anpassen müssen.
Vom Eingang waren laute Stimmen zu hören. Irgendein Idiot hat sogar rumgeschrien. (Wenn was passiert, schreit garantiert immer ein Idiot herum, ist euch das schon mal aufgefallen?)
Soll er doch schreien, schließlich hast nicht du den Ärger am Hals.
Mit der Natürlichkeit von einem, der von der Straße her großes Geschrei hört und zum Fenster geht, um hinabzuschauen, nahm Ingenieur Romolo Sesti Orfeo wieder die Fernbedienung zur Hand und drückte eine neue Tastenkombination.
Auf dem Bildschirm erschien jetzt die Eingangshalle des Supermarkts, wo sich hinter den Kassen eine ganze Menge Schaulustiger drängelte und die Angestellten anscheinend Erklärungen abgaben und den Spannern, die partout reinkommen und zum Epizentrum vordringen wollten, den Weg versperrten.
Matrix und ich wechselten einen Blick echter Bewunderung für das, was uns auf die Schnelle wie eine wundersame technische Neuerung erschien. (Dass zwei Videokameras an einem Ort gleichzeitig zwei weit auseinanderliegende Punkte aufnehmen, müsste für uns Menschen aus dem dritten Jahrtausend eigentlich leicht verständlich sein. Genauso wie die Tatsache, dass Monitore innerhalb eines Netzwerks einzeln anwählbar sind, so dass man jede Supermarktabteilung separat überwachen kann; in diesem Moment war uns diese elementare technische Funktion aber so erschreckend wie für Höhlenbewohner die Entdeckung des Feuers.)
Das Geniale an Ingenieur Romolo Sesti Orfeos Fernbedienungstrick war seine Idee, die im Supermarkt bereits vorhandene technische Ausstattung für seine Zwecke zu nutzen, ohne dass er daran grundlegende Veränderungen vornehmen musste (es gibt eben nichts Verblüffenderes als die Einfachheit).
Dieses gegen sich selbst gerichtete System der Videoüberwachung, das uns hier drinnen die Bilder der hypnotisch auf die Live-Übertragung der Geiselnahme starrende Menge bescherte, erinnerten mich unglaublich an die Direktübertragung von den Twin Towers (sowohl in der Strategie des Angriffs wie in der kollektiv niederschmetternden Wirkung). Damals wurde das globale Fernsehen zum ersten Mal von außerprogrammmäßigem Chaos lahmgelegt, wurden Sendepläne über den Haufen geworfen, und es gab nur noch ein einziges Thema.
Wenn ich in der Tinte sitze, bin ich im Stande, spontan relativ entlegene Hypothesen (wie diese hier) zu entwickeln, wodurch ich mir, offen gestanden, ein bisschen intelligent vorkomme. (Und der einzige Grund, weshalb ich nicht weiter daran feile, ist die Tatsache, dass ich gerade mitten in der Tinte sitze.) Später, wenn der ganze Schlamassel vorbei ist und ich daran anzuknüpfen versuche, fällt mir aber wahrscheinlich kein einziger meiner guten Gedanken mehr ein, das weiß ich schon jetzt.
Wer weiß, wie viele spontan entwickelte Hypothesen auf diese Weise auf der Strecke bleiben …
Über die Lautsprecher des Supermarkts hörten wir übrigens auch die Stimmen der Gaffer perfekt. Den Schwachsinn, den sie von sich gaben – Zeugs wie: ›Die Taliban‹ oder: ›Den kenn ich doch, das ist einer von Platz an der Sonne ‹ –, wiederhole ich hier erst gar nicht.
Ein erneutes Drücken des Ingenieurs auf die Fernbedienung, und die Übertragung aus dem Eingangsbereich wurde eingeblendet. Er ging zur Überwachungskamera und führte sein Gesicht drohend an sie heran.
»Jetzt aber Ruhe«, donnerte er.
Auf den Bildschirmen draußen musste das rüberkommen wie der Schrei von Munch – jedenfalls verstummte die Menge im Eingangsbereich schlagartig. Auch wir
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