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Meine Schwiegermutter trinkt - Roman

Meine Schwiegermutter trinkt - Roman

Titel: Meine Schwiegermutter trinkt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diego de Silva
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den Blick zu seinem Peiniger auf, und in dem Moment ist es, als hätte jemand in meinem Kopf auf die Reset-Taste gedrückt. Zufällig und völlig automatisch werden mit einem Ruck fast schon vergessene Informationen reanimiert, und plötzlich verstehe ich alles. Und sehe sogar die Zeitungsschlagzeilen jener Tage wieder vor mir, die wenigen Pressenotizen, die ich vielleicht beim Warten vor irgendeiner Anwaltskanzlei gelesen habe.
    Massimiliano Sesti.
    Die Zeitungen hatten den Nachnamen in ihren Berichten damals offenbar abgekürzt (›Massimiliano S.‹). Zusammen mit einem Freund war er am frühen Morgen vor einer Frühstücksbar kaltblütig ermordet worden. Eine Hinrichtung, die klar die Handschrift der Camorra trug, ausgeführt mit mustergültiger Grausamkeit. Nur dass sich dann herausstellte, dass Massimiliano Sesti ein lupenreines Führungszeugnis hatte – im Unterschied zu seinem Freund, bei dem ein Drogen-Bagatelldelikt verzeichnet war. Eine kleine, zu vernachlässigende Sache, die allerdings ausreichte, um den Tod der beiden in einem unerträglichen Zwielicht erscheinen zu lassen.
    In Kenntnis der Opferbiografien wäre selbst ein Praktikant in der Zeitungsredaktion zu dem Schluss gelangt, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste. Zwei junge Männer, die nach einer Nacht in der Diskothek durch die Stadt schlendern und aufgrund einer unglücklichen Verwechslung zur Zielscheibe des Anschlags werden.
    Wenn die Camorra jedoch dermaßen frontal tötet, wird sich niemand die Mühe machen, dem weiter nachzugehen. (Das kollektive Gedächtnis ist nämlich nicht so gestrickt, dass es die Anstrengung auf sich nimmt, unter solchen Umständen an die Unschuld der Opfer zu glauben.) Tote wie diese beiden jungen Männer erregen kein Mitleid, nicht mal Empörung. Man spricht einfach nicht weiter darüber. (Im Grunde vielleicht sogar, weil man sie doch verdächtigt.)
    Jetzt ist mir alles klar.
    Das also ist der Zweck des Live-Spektakels: den Namen eines ermordeten Sohns von der Schmach zu befreien.
    Ingenieur Romolo Sesti Orfeo beginnt zu erzählen, berichtet detailliert vom Hergang der Hinrichtung, denunziert den Boss mit Vor- und Nachnamen und lässt keinen Zweifel daran, dass er genauestens über ihn Bescheid weiß: In wenigen Sätzen fasst der Ingenieur seine kriminelle Biografie zusammen und macht in ihm den Auftraggeber der Strafexpedition der fraglichen Nacht aus.
    Jedes Mal, wenn er den Namen seines Sohnes nennt, bricht ihm die Stimme. Er muss sie dann mühsam wieder aufklauben und zusamenfügen, so gut es eben geht, bevor er weitersprechen kann.
    Zu gern würde ich ihm bei seiner herzzerreißenden Verlesung der Anklageschrift sagen, dass ich im Bilde bin, dass ich die Geschichte kenne, dass man nur den Zeitungsbericht zu lesen brauchte, um zu kapieren, dass sein Sohn nichts mit der Sache zu tun hatte.
    Nur lesen, sonst nichts.
    Ich sollte ihm sagen, dass er es für mich nicht tun muss, die ganze Geschichte noch einmal qualvoll aufrollen.
    Dass ich Bescheid weiß. Und die Beweise habe.
    Dass mir der ganze Prozess nichts bringt.
    Stattdessen halte ich aber den Mund, wie alle, und lasse ihn reden.
    Weil man einen gramgebeugten Menschen, der im Recht ist, einfach nicht unterbricht.

Fortschreitender Sinnverlust
    Ist das bei euch noch nie vorgekommen, dass ihr keine Lust hattet, euch sauber auszudrücken? Nicht: keine Lust, zu reden, sondern: keine Lust, euch präzise auszudrücken, meine ich. Also eure Gefühle, Vorlieben, Einstellungen, Lebensansichten präzise zu benennen.
    Nein? So was kennt ihr wirklich nicht?
    Also bei mir – bei mir ist es genau so , seit ich wieder aus dem Supermarkt raus bin.
    Nicht dass ihr denkt, ich sei depressiv. Ich sperre mich nicht in die Wohnung ein, ich tigere nicht stundenlang durch die Straßen (was ja auf dasselbe hinausläuft), ich fahre auch nicht ziellos durch die Gegend, verderbe den Leuten, die mich zum Essen einladen, nicht den Abend, schlafe ziemlich regelmäßig, nehme keine Drogen, rauche und trinke maßvoll.
    Es ist auch nicht so, dass ich das, was ich zu sagen hätte, grundsätzlich uninteressant fände. Ich habe nur keine Lust, mühsam nach einer Form zu suchen, um meine Gedanken nachvollziehbar zu machen. Bei den anderen anzukommen, fällt mir schwer, das ist es.
    Privat produziere ich aber haufenweise Material, das sogar intelligent wirken könnte. Manchmal bin ich sogar selber überrascht, was für Eingebungen ich habe, wenn ich bloß über die Straße gehe oder

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