Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
irgendwelche Sätze aus Unterhaltungen von Leuten aufschnappe, die zufällig an mir vorbeigehen.
Vorgestern zum Beispiel: Ich ging gerade an einer frisch eröffneten, ambitionierten Vinothek vorbei. Plötzlich fiel mir ein, dass dieses Lokal in meiner Kindheit ein richtig schönes Jugendstil-Kino gewesen war. Da das Kino am Stadtrand lag und deshalb kein wohlhabendes Publikum ansprach, zeigte es die Filme normalerweise erst dann, wenn sie in den Zentrums-Kinos gerade ausgelaufen waren. Anders gesagt: Die Bar war vor ein paar Jahrzehnten so was wie ein Kino aus zweiter Hand mit zeitversetzter Projektion. Das Programm ordnete sich den Kinos im Zentrum unter und spiegelte die Einteilung der Gesellschaft in Klassen wider, die damals noch viel schärfer voneinander getrennt waren als heute.
Wenn die Erstaufführungskinos urlaubshalber geschlossen hatten und es also keine Reste weiterzuverwursten gab, zeigte das Jugendstil-Sonderangebotskino vollends unglaubliche Filme (die Kinokarten wurden dann nochmal billiger). Wo sie die immer hernahmen, weiß ich nicht, aber der Titel von einem ist mir unvergesslich: Tarzak gegen die Leopardenmenschen (ja, Tarza k , ihr habt ganz richtig gehört. Ist dieses k nicht ein echtes Meisterwerk?).
Als das Kino pleite ging (im Sinne von dichtgemacht werden, weil es nicht mehr genug Gewinn abwirft), durchlief das Gebäude eine bilderbuchmäßige Karriere: erst übernahm es die Stadtverwaltung und machte eine Art Programmkino daraus (bis auch dessen Betreiber scheiterten und es erneut zumachten); schließlich wurde ein Pornokino daraus.
Dieses typische Stadtrandphänomen, diese Rückentwicklung, an deren Ende unweigerlich die Pornoindustrie steht, die sich ein ursprünglich öffentliches Gut unter den Nagel reißt und ihm eine dem ursprünglichen Nutzen diametral entgegengesetzte Nutzung unterjubelt, hat auf mich immer ein bisschen neorealistisch gewirkt.
Der Porno hält überall dort Einzug, wo die Kultur scheitert, und beweist ihr durch seine bloße Existenz, dass sie unrecht hatte mit ihrem Anspruch. Ein Dekadenzsiegel wie zur Bestätigung, dass da was aufgegeben wurde.
Wie ich also gerade an dem früheren Jugendstil-Sonderangebots-, nachmaligen Programm- und späteren Rotlichtkino vorbeiging, das aktuell gerade eine Vinothek mit warmer Küche (also: ein Restaurant) ist und offenkundig beliebter Treffpunkt junger Aktivisten der Happy Hour, die in Klamotten aus dem Haus gehen, als müssten sie zum Casting von Männer und Frauen , da kam mir der Gedanke, dass der Porno erst durch das Internet zu einem vollends häuslichen Gebrauchsartikel geworden ist (nachdem der Weg durch seine Verbreitung auf Videokassetten geebnet war). Aber davor hatte er immer diese einzigartige Unterstützungsfunktion für Kinos in roten Zahlen gehabt. Selbst hoffnungslos aussehenden Fällen half er letztendlich wieder auf die Beine – aber auf den Plan trat er immer erst am Ende einer Verfallsgeschichte, wie eine Hyäne auf der Suche nach Aas.
Außerdem kam mir der Gedanke, dass der Porno immer nach etwas anderem kommt. Nach dem Tod des Eros, nach einer Insolvenz, nach einer Pleite, am Ende eines Traums. Er braucht unbewohnte Orte und Wüsten, um sich selbst zu feiern. Das einzige Entwicklungskonzept, das sein Geschäft berücksichtigt, ist der Profit. Deshalb springt er auch nur bei Verlustgeschäften ein, wo er den Start nicht bezahlen muss. Er installiert sich immer nur provisorisch, greift den Gewinn ab, solange aus der Location etwas herauszuholen ist, und zieht dann dorthin weiter, wo er den nächsten Stich machen kann.
Wem aber soll ich solche Überlegungen bitte schön mitteilen? Mein Problem ist das Motivationsdefizit, was die semantische Bemühung beim Formulieren der Mitteilung angeht. Man könnte diesen Zustand vergleichen mit der typischen Fitnesscenter-Karriere: Wenn du den Vertrag frisch unterschrieben hast, gehst du in den ersten Wochen hochmotiviert und, ohne ans Schwänzen überhaupt nur zu denken, regelmäßig zum Training; aber dann lässt die Motivation langsam nach, und eines Tages, während du auf einer Bank liegst und Hanteln stemmst, hältst du plötzlich inne und denkst: ›Wer zwingt mich denn? – na bitte: niemand! Was mache ich mir also für einen Stress?‹ – und gehst einfach nicht mehr hin.
Der einzige Mensch, mit dem ich zurzeit reden kann – abgesehen von Espedito Lenza, dem Buchhalter-Steuerberater sowie Mitmieter des Büros, in dem wir theoretisch beide arbeiten (auch
Weitere Kostenlose Bücher