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Meine Schwiegermutter trinkt - Roman

Meine Schwiegermutter trinkt - Roman

Titel: Meine Schwiegermutter trinkt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diego de Silva
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bewährten Fernsehtiming heben wir den Blick gleich wieder zu den Monitoren, um zu überprüfen, ob das fragliche Detail auch in der Live-Übertragung zu sehen ist (bei jeder noch so kleinen Geste, Äußerung oder Begebenheit schauen wir jetzt automatisch nach, ob es auf den Bildschirmen eine Entsprechung gibt: als ob sich die Wirklichkeit da hineinverlagert hätte und die Gegenwart aufgezeichnet würde).
    Da es nicht so offensichtlich ist (der Fußboden war ja schon vorher mit Joghurt verdreckt), treffen sich unsere Blicke und wir einigen uns auf Anhieb, dass wir der Öffentlichkeit das peinliche Rinnsal lieber verschweigen wollen.
    Ein kleiner Pakt, den wir automatisch miteinander schließen, ohne dass mir klar wäre, wen oder was wir auf diese Weise eigentlich verteidigen wollen (die Intimität von Matrix, die durch eine so gewaltsame Zurschaustellung verletzt würde, unser Image, das wir nicht durchs Fernsehen entwürdigt sehen wollen, oder, noch schlimmer, die Reality-Show, zu der ich gerade nolens volens beitrage).
    Das Einzige, was mir klar wird, als mein Blick den von Matrix kreuzt, der gerade zu Ingenieur Romolo Sesti Orfeo hinüberschaut und ihn angrinst mit der verzweifelten Genugtuung von einem, der gerade einen Coup gelandet hat: Er hat es also absichtlich gemacht.
    Wenn man einen Gefangenen einem so instinktiven Bedürfnis nachgeben sieht, versteht man wirklich , was es heißt, in der Hand von jemand anderem zu sein. Man nimmt beinah persönlich an der Regression teil. Und man hält es nicht aus.
    Durch sein Einnässen hat Matrix einen Qualitätssprung vollzogen: Er hat die Last der Geiselnahme sozusagen umgekehrt. Als ob er sich ans Fernsehen gewandt hätte mit den Worten: ›Schaut her. Schaut euch an, wie der mich zugerichtet hat.‹
    Und an Ingenieur Romolo Sesti Orfeo hängt praktisch von Jetzt auf Gleich das Profil des Folterknechts, das er bis vor einer Minute noch nicht hatte (jedenfalls nicht so eindeutig).
    Was zwangsläufig alles verändert.

Ein Fernsehen der guten Gefühle
    hat es nie gegeben
    Matrix. Ihr solltet ihn sehen, jetzt wo seine vorsätzliche Inkontinenz bis ins Fernsehen durchzusickern beginnt (das Geraune der Hyänen hört sich tatsächlich immer deutlicher nach Missbilligung an, und ein paar liegen sich tatsächlich schon in den Haaren).
    Scully und Mulder schauen einander gerade zum dritten Mal an.
    Die Rai-Journalistin (ein hübsches Exemplar von Aasgeier, wie mir mittlerweile scheint) wird kurzerhand übergangen.
    Mary Stracqua hat noch nichts mitgekriegt, obwohl ihr (Ex-)Kameramann schon mehrfach auf die Hosen gezoomt hat.
    … Ihr solltet sehen, was für eine Unschuldsmiene Matrix aufgesetzt hat. In was für eine Christus-Pose er sich geworfen hat (kniend, den Kopf auf die Schulter gebeugt, die Augen verdreht und den Mund leicht geöffnet). Wie er die Rolle des seiner Rechte beraubten Gefangenen spielt (reichlich schlecht zwar, aber das ist fürs Fernsehen ja irrelevant).
    Ein erbärmliches Schauspiel, eine haarsträubende Mischung, halb mitleiderregend, halb abstoßend.
    Inzwischen müssten wir uns eigentlich alle im Klaren darüber sein, dass eine Reality-Show ästhetischen Widerspruch erregen muss, damit sie funktioniert. Da sie ein Dokumentarfilm über das menschliche Elend ist, gedreht zu nicht wissenschaftlichen Zwecken, schaut man sie sich nur aus einem einzigen Grund an: um sich überlegen zu fühlen. In einem solchen Sendeformat wird eine körperliche Ausscheidung deshalb zu reinem Kryptonit.
    Die Leute haben keinerlei Problem, sich eine mehr oder weniger entrüstete Polemik – beispielsweise über die Herabwürdigung des Körpers im Fernsehen – reinzuziehen, allerdings nur innerhalb eines starren ästhetischen Schemas (die Showgirls mit blanken Busen und nackten Ärschen, oh, was für eine Erniedrigung des weiblichen Körpers!): aber Mitleid beim Anblick eines armen Teufels, der sich vollgepisst hat – nicht ums Verrecken. Reality-Shows dulden kein Mitgefühl. Höchstens programmierte Rührung.
    Nehmt nur mal die Programme, die den totalen Schiffbruch simulieren: KZ s, überwacht von brutalen Fernsehkameras, die das Leben der zum Bleiben Verurteilten verschonen, während sie es den Gefangenen, die sie freilassen, nehmen. Im Lager der Reality-Show wird man mit der Freiheit zur Hölle geschickt. Wer sich von der Insel rettet, ist ein toter Mann.
    Im Volontariat der Entbehrungen, durch das man die wahren Werte des Lebens kennen lernen soll, sind Spontan- oder

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