Meine Seele weiß von dir
sie zu streicheln und mit meinen Lippen zu berühren.“
Leanders Miene verrät nicht, was in ihm vorgeht. Ob er denkt, dass es abnorm ist, was Thomas tut, oder bloß ein bisschen verrückt.
„Das ist ziemlich außergewöhnlich, finde ich“, sagt Leander mit neutraler Stimme.
Ich dagegen finde es kaum seltsamer, als ein Gesicht auf einem Fernsehbildschirm zu küssen - und es geht mir dabei wie Thomas: Ich kann einfach nicht aufhören, es zu streicheln und mit meinen Lippen zu berühren.
Kapitel 27
Freitag, der 20. Juni.
Der Tag, an dem ich den letzten Namen auf der Liste potenzieller Liebhaber überprüfen werde: Heiko Hertz.
Ich mache mich zum Joggen fertig und befehle meinem Gehirn, noch einige Erinnerungen mehr preiszugeben – was es aber nicht tut.
Pünktlich trabe ich den gewohnten Weg entlang. Wohl wissend, dass Heiko gleich zu mir stoßen wird. Wie schnell ein Mensch Angewohnheiten und feste Rituale entwickelt! Selbst ich in meiner Situation tue das: Ich erledige als Sina meine täglichen Aufgaben, treibe Sport und treffe Freunde, genau wie ich es als Sina-Mareen getan habe! Es stimmt: Gewohnheiten vermitteln Normalität, Routine und ein gewisses Maß an Sicherheit. Und ich habe ein Leben.
Ich laufe ein wenig verkrampft, was ich auf meine Anspannung schiebe. Möglicherweise sind es aber auch die Restauswirkungen meines Katers vom Vortag. Ich stöhne verhalten und sehe mich gezwungen, mein Tempo zu drosseln, bis meine Muskeln aufgewärmt und geschmeidiger sind.
Nochmals bemühe ich mich, von allein darauf zu kommen, ob Heiko tatsächlich mein Geliebter ist.
Aber vergeblich.
Auf der Einbiegung zum Waldweg laufe ich auf der Stelle, bis Heiko auftaucht. Schon von Weitem hebt er die Hand und winkt mir zu.
„Hey, Schattenfrau, du Drückebergerin“, begrüßt er mich lachend und küsst mich flüchtig auf die Wange. „Wo warst du in den letzten Tagen? Ist alles in Ordnung?“
„Nicht, wenn ich noch lange auf der Stelle laufen muss“, schnaufe ich und beginne zu schwitzen. „Denn in diesem Falle habe ich bald meine letzten Kraftreserven aufgebraucht. Ich bin vollkommen ausgepowert!“
„Kein Wunder, wenn du nicht regelmäßig trainierst. Na komm, sonst schaffst du womöglich die Strecke nicht.“ Wir laufen los. Heiko übernimmt die Führung. Ganz von selbst hänge ich mich an seine linke Seite, leicht nach hinten versetzt, in seinem Windschatten.
Als wir an der Freyalinde vorbeikommen, sehe ich nicht hin. Ich fürchte mich davor, Rainer Marias Grabhügel zu entdecken. Für diesen Anblick bin ich einfach noch nicht bereit, und Leander hat mir nicht gesagt, wo genau er ihn begraben hat.
Nach den ersten Kilometern lassen die Verkrampfungen nach, ich schnaufe auch nicht mehr bei jedem Atemzug und schaffe es sogar, auf Heikos Geplauder mehr zu erwidern als ein Prusten. Wenn natürlich nicht viel mehr als: „Ach!“ „Nein.“ „Wirklich?“ „Ja.“ „Prima!“ „Bitte lauf nicht so schnell!“
„Ab nächste Woche sind Sommerferien“, Heiko bereitet es nicht die geringste Anstrengung zu reden und zu laufen. Er ist sogar noch darum bemüht, seine Geschwindigkeit nicht zu erhöhen, damit ich mithalten kann.
„Ach.“
„Ich habe schon angefangen, meine Klamotten zu packen. Ich will sofort am Mittwoch nach Schulschluss losfahren. Nicht erst am Wochenende, wenn die alljährliche Völkerwanderung einsetzt.“
„Gute ... gute Idee“, keuche ich.
„Diesmal habe ich einen Kletterurlaub in Istrien gebucht. Da gibt es ein tolles Klettergebiet in Rovinj , das noch nicht überlaufen ist. Und die Teilnehmerzahl hält sich in Grenzen!“
Wie ... viel?“ Meine Lunge ist ein prall gefüllter, ungleichmäßig arbeitender Blasebalg.
„Mit Mara und mir sind es sechs Leute. Und der Tourenführer .“
„Mara?“
Heiko läuft rot an. „Die neue Kollegin, die letztes Jahr bei uns angefangen hat. Mara Flötke . Du weißt schon: Englisch, Französisch und unglaublich hinreißend. Sie wird dir wieder einfallen. Keiner kann Mara vergessen.“
Ich spare mir die Atemluft. Stattdessen konzentriere ich mich auf seine nun folgende sehr ausschweifende Beschreibung. Demnach ist Mara eine Mischung aus Angelina Jolie und Brigitte Bardot, mit einem Verstand, der dem Stephen Hawkings zumindest sehr nahe kommt, und einem subtilen, teils schon schwarzen Humor, den man nur als very British bezeichnen kann.
Sie verfügt über ein beträchtliches Verständnis für ihre Schüler und lässt sich auch
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