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Meine Tiere, mein Leben

Meine Tiere, mein Leben

Titel: Meine Tiere, mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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Sopranstimmchen; fordernd, ängstlich, tadelnd und zärtlich.
    Die Melodie der Schafe, die Musik des Frühlings.

2 - Pferdestärke
     
    DAS WOHL DRAMATISCHSTE EREIGNIS in der Geschichte der Tiermedizin war das Verschwinden des Zugpferds. Es ist schwer zu glauben, dass sich dieses glorreiche Fundament unserer Profession innerhalb weniger Jahre sang- und klanglos verflüchtigt hat. Und ich war einer von denen, die diese Entwicklung miterlebt haben.
    Als ich nach Darrowby kam, hatte der Traktor bereits Einzug gehalten, doch auf dem Land sterben Traditionen nicht so schnell aus, daher gab es noch eine Menge Pferde. Obwohl mein Tiermedizin-Studium alles, was mit Pferden zu tun hat, in den Vordergrund und damit alles andere weit in den Schatten gestellt hatte, muss ich gestehen, dass aus mir nie ein echter Pferdemensch geworden ist. Was auch immer man darunter verstehen mag – ich bin überzeugt, dass man entweder als Pferdemensch geboren wird oder aber die Neigung in der frühen Kindheit erwirbt. Ich kann kranke Pferde wirksam behandeln und hege großen Respekt für sie, doch die Gabe eines echten Pferdemenschen, ein solches Tier zu beschwichtigen und zu bezähmen, ist mir nicht gegeben. Ich habe mich gefragt, ob es wohl einen bestimmten Anlass gab, der meine Haltung Pferden gegenüber geprägt hat. Und dann fiel es mir ein.
     
    Es war in Schottland. Ich war siebzehn, und ich durchschritt soeben den Bogengang vom Veterinärscollege zur Montrose Street. Seit drei Tagen war ich Student, doch erst an diesem Nachmittag hatte mich erstmals das Hochgefühl meiner Bestimmung gepackt. Mit Botanik und Zoologie herumzudoktern war ja ganz nett, aber nun waren wir endlich zum Kern der Sache vorgestoßen: Ich hatte meine erste Vorlesung über Nutztiere hinter mir.
    Das Thema waren die Rassenmerkmale des Pferdes gewesen. Professor Grant hatte ein maßstabsgetreues Bild eines Pferdes aufgehängt und es von Nase bis Schweif erklärt, hatte Widerrist, Hufe, Mähne und all die anderen wohlklingenden Pferdebegriffe genannt. Dabei war der Professor geschickt vorgegangen: Um die Vorlesung interessanter zu gestalten, hatte er laufend kleine praktische Hinweise wie »Hier können Hasenhacken auftreten« oder »Hier finden wir Gallen« eingestreut. Er sprach über Kreuzgallen und Hufknorpelverknöcherung, Überbeine und Hufknorpelfistel, Krankheiten, die erst in vier Jahren auf unserem Lehrplan stehen würden, deren Erwähnung jedoch das Fach belebte.
    Die Worte gingen mir noch im Kopf herum, als ich langsam die abschüssige Straße hinunterspazierte. Aus diesem Grund war ich hergekommen. Mir war, als sei ich initiiert worden und gehörte nun einem Geheimclub an. Bei Pferden konnte mir keiner mehr was vormachen. Außerdem trug ich eine nagelneue Reiterjacke, einen Mackintosh mit zahllosen Strippen und Schnallen, die gegen meine Beine schlugen, als ich nun in die belebte Newton Road einbog.
    Als ich das Pferd erblickte, konnte ich mein Glück kaum fassen. Es stand vor der Bibliothek, unterhalb von Queen’s Cross, wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Niedergeschlagen und mit hängendem Kopf harrte es zwischen den Deichselarmen eines Kohlekarrens aus, der wie eine Insel im wilden Strom der Autos und Busse stand. Passanten hasteten unbeeindruckt vorüber, doch mit mir meinte es das Schicksal ganz offensichtlich gut.
    Ein Pferd. Nicht bloß ein Bild, sondern ein richtiges, echtes Pferd. Versprengte Wörter aus der Vorlesung kamen mir in den Sinn: Fessel, Sprunggelenk, Kronsaum und all die Abzeichen wie Schnippe, Blesse, weiße Fessel und linkes Hinterbein. Ich stand auf dem Bürgersteig und begutachtete das Tier eingehend.
    Ich bildete mir ein, es müsse jedem Passanten ins Auge springen, dass hier ein Fachmann zu Werke ging. Nicht bloß ein neugieriger Betrachter, sondern ein Mann, der alles wusste und alles verstand. Ich fühlte mich von einer sichtbaren Pferdeaura umweht. Ich ging ein paar Schritte auf und ab, die Hände tief in den Taschen der neuen Reiterjacke vergraben, den Blick wachsam auf mögliche Beschlagfehler, Hasenhacke oder weichen Spat gerichtet. Meine Untersuchung war so gründlich, dass ich mich auf die andere Seite des Pferdes vorgearbeitet hatte und dem rasenden Verkehr gefährlich nahe gekommen war.
    Ich warf einen Blick auf die vorbeihastenden Menschen. Keiner schien mich zu beachten, nicht mal das Pferd. Es war ein großes Tier, mindestens 170 cm Stockmaß, das gleichgültig die Straße hinunterglotzte und gelangweilt von

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