Meine Wut ist jung
Bundesverfassungsgericht hat mit aller Deutlichkeit immer wieder festgestellt: Eine Demokratie gedeiht nur, wenn die Bürger sich bei der Wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte unbeobachtet wissen. Friedliche Demonstranten müssen in Ruhe gelassen und gegebenenfalls geschützt werden. Vergessen wir nicht: Das Versammlungsrecht ist eines der wenigen Mittel gegen die oft beklagte Ohnmacht der Bürger. Außer dem Engagement in Parteien und Verbänden bleibt dem Einzelnen oft nur die Möglichkeit, »sich mit vielen anderen auf die Straße zu stellen«, wie das Verfassungsgericht dies einmal treffend ausdrückte. Die Versammlungsfreiheit gilt für alle Bürger, also auch für sogenannte Verfassungsfeinde. Die Polizei kommt bisweilen in schwierige Abwägungsprozesse, wenn Verfassungsfeinde und Demokraten auf der Straße aufeinandertreffen.
Auf Vorrat werden für viele Jahre neuerdings auch Fluggastdaten gespeichert. Das alles ist nur ein Anfang. Die neue Kommunikationstechnologie verführt zum Aufbau immer neuer Datensammlungen auf »Vorrat«.
Seit Jahrzehnten beobachten wir in unserem Land eine sicherheitspolitische Aufrüstung. Die polizeiliche Sicherheitslogik hat stark an Boden gewonnen. Der Versuch einer umfangreichen Risikosteuerung führt dazu, dass sich die Grenzen zwischen Unschuldigen und Schuldigen, zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen, zwischen Polizei und Verfassungsschutz verwischen. Prävention bestimmt immer mehr das staatliche Handeln. Der Präventionsstaat ist unersättlich. In seiner Logik liegt es, dem Bürger immer mehr Freiheit zu nehmen und ihm dafür angebliche Sicherheit zu geben.
Ist dieser Konflikt ein neues Phänomen?
Geschichtlich gesehen, folgt die heutige Politik der inneren Sicherheit eher den Spuren von Thomas Hobbes, einem englischen Philosophen und Staatstheoretiker des 17. Jahrhunderts. Er sah den Staat als Aufsichtsbehörde, die als Gegenleistung für den Schutz den Gehorsam seiner Bürger beansprucht. Doch nicht Hobbes ist der Vater des liberalen Verfassungsstaates, sondern John Locke, ebenfalls ein einflussreicher englischer Philosoph im 17. Jahrhundert und ein wichtiger Vordenker der Aufklärung. Zwar zahlt der Bürger auch bei ihm mit Gewaltverzicht und Rechtsgehorsam für den staatlichen Schutz, doch zugleich ist er auch als freier Bürger sicher vor dem Staat. Ein Verfassungsrichter hat sich vor einiger Zeit darüber beklagt, dass man sich den Staat nicht mehr durch anständiges Verhalten vom Leib halten könne. Es gibt ein Recht des Bürgers, in Ruhe gelassen zu werden.
Was heißt konkret »in Ruhe lassen«?
Ich kritisiere - um dies noch einmal klarzustellen - die Ausuferung staatlicher Überwachungstätigkeit. So kommt der Bürger nicht zur Ruhe. Ich bestreite nicht, dass der Staat auch der wachsenden Kriminalität im Internet und ihren neuen Formen entschieden entgegenwirken muss. Die legalen staatlichen Überwachungsmaßnahmen ufern aber aus. Dazu ein Beispiel: Bei der Telekommunikationsüberwachung ist unser Land mit über 45.000 abgehörten Anschlüssen und damit statistisch etwa 100 Millionen belauschter Gespräche pro Jahr ein Spitzenreiter im internationalen Vergleich. Das Mobiltelefon wird - wie die Computerspezialisten Constanze Kurz und Frank Rieger in ihrem beachtenswerten Buch »Die Datenfresser« sagen - »zur Ortungswanze in der Hosentasche«. Jedes Handy speichert die Bewegungen seiner Benutzer.
Wir haben bisher vor allem über Gefährdungen gesprochen, die vom Staat ausgehen. Welche Gefahren für die Grundrechte sehen Sie in der privaten Datenverarbeitung?
Staatliche Organe werden durch Parlamente und Gerichte noch einigermaßen kontrolliert. Ein Datenschutzrecht, das eine wirksame Kontrolle der Privaten ermöglichen würde, gibt es noch nicht. Dabei drohen in der Tat zunehmend neue Gefahren durch die immensen Datensammlungen von privater Seite, vor allem von den neuen Datenimperien, die eine nicht vorstellbare Macht ausüben. Google hat allein etwa eine Milliarde Suchanfragen pro Tag. Facebook hat rund 800 Millionen Mitglieder weltweit, Amazon wickelt bis zu 14 Millionen Bestellungen pro Tag ab. Ob wir es wollen oder nicht: Wir geben täglich Informationen über uns preis, ohne darüber im Einzelnen zu wissen und ohne zu ahnen, wie sie in Zukunft verwendet werden. Es ist eine »Datenwährung«, mit der wir für die kostenlosen Internetdienste bezahlen. Die Konzerne sammeln, verknüpfen, verwerten und verkaufen unsere Daten. So gut wie keine Spur,
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