Meine Wut rettet mich
machen – auch wenn sie keine Lust dazu hatten. Man darf nicht allem nachgehen, was Kinder gerade so wollen, sondern muss Regeln setzen. Das Leben in der Gemeinschaft ist immer mit Regeln besetzt. Anna kam mal nach Hause und erzählte, in der Schule habe man Erziehungsstile durchgenommen: partnerschaftlich, autoritär, antiautoritär. Sie sagte, sie sei zum Glück autoritär und partnerschaftlich erzogen worden und nicht antiautoritär. Das hätte sie nicht gewollt, man müsse Kindern doch zeigen, wo es langgeht. Peter hatte Ähnliches durchgenommen und erklärte uns: Pater Köster stehe für einen menschlichen Erziehungsstil, ich für den spartanischen. Anscheinend war ich die Strengere. Ich halte viel davon, dass Regeln verstanden und eingehalten werden.
In Ihrer Generation hat man als Kind kaum gewagt zu hinterfragen. Man gehorchte, ging zum Religionsunterricht und zur Kirche, »man« machte das einfach.
Genau. Wir hatten alle eine solche Erziehung. Ich wollte das aber auch, schon als Kind. Ich nahm Jesus beim Wort, und ich protestierte, wenn ich fand, dass jemand sich nicht daran hielt. Als einmal die Patres der Gemeindemission in unserer Kirche ein pastorales Gespräch über Lebensfragen führten und nur die Erwachsenen eingeladen wurden, habe ich einen Aufstand angezettelt. Denn ich habe vermutet, dass da etwas besprochen wurde, das auch uns anging. Wir sind mehrere Male um die Kirche gezogen und haben ganz laut Jesus zitiert: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« Bis der Pfarrer rauskam und uns verscheuchte. Was die Erwachsenen in der Kirche reden, würde Kinder nichts angehen, das hätte Jesus auch gefunden, behauptete er. Mir genügte das nicht, es konnte gar nicht stimmen, dass Jesus die Kinder ausschloss. Ich habe noch erfahren, um was es ging: Sie sprachen über Sexualmoral …
„ Ich konnte sehr wütend werden, wenn ich fand, dass etwas ungerecht war oder andere benachteiligte. ”
Sie waren also fromm, aber nicht leichtgläubig?
Ich konnte sehr wütend werden, wenn ich fand, dass etwas ungerecht war oder jemand andere benachteiligte. Ganz besonders, wenn diese Leute Christen sein wollten. Der Jugendpfarrer bei einer Jugendwallfahrt mochte uns Mädchen nicht und schimpfte von der Kanzel auf uns herab. Ich war damals Fahnenträgerin der Mädchen. Mir tut bis heute leid, dass ich nicht umgehend feierlich mit der Fahne aus der Kirche ausgezogen bin.
Haben Ihre Mitschülerinnen die Religiosität, die sie von klein auf erlebten, auch ähnlich verinnerlicht?
Kaum eine meiner Mitschülerinnen geht noch in die Kirche. Ich habe mich gefragt: Wie kann das sein? Jedenfalls habe ich, als ich nach langer Zeit wieder dort, in Klarenthal, war, gedacht, am Sonntag sehe ich die meisten im Gottesdienst. Doch gerade mal eine einzige war dort. Ich war wütend und fand das undankbar dem lieben Gott gegenüber. Dies zeigt aber auch: Es ist und bleibt die eigene Entscheidung eines jeden, wie er sich orientiert; auch wenn er christlich erzogen wurde, ist dies nur ein Angebot, jeder trifft selbst die Entscheidung. Meine Entscheidung ist eindeutig, ich kann sie aber keinem aufdrängen, sondern ich kann nur vorleben, wovon ich überzeugt bin.
Wo endet für Sie Ihre Akzeptanz einer solchen Kirchenferne?
Ich hätte niemals einen Partner geheiratet, der von der Kirche und von der Religion nichts hält.
Hätte er katholisch sein müssen?
Er hätte einer christlichen Kirche angehören müssen, auch evangelisch wäre möglich gewesen.
Mal abgesehen von Weihnachten, Taufe, Hochzeit und Beerdigung haben sich viele Menschen vom Gottesdienst und von der Kirche abgewendet. Wie erklären Sie sich das?
Die Zeit hat sich geändert, und die Kirche ist stehen geblieben. Die Kirche ist nicht mit den Menschen mitgegangen. Das werfe ich ihr auch vor. Das Zweite Vatikanische Konzil bot große Chancen, die Fenster standen offen, man hätte ausmotten können. Doch dann blieb man stehen, die Hardliner kamen an die Schaltstellen und taten alles, um das Zweite Vatikanum kaputt zu machen. Es wurde wahnsinnig viel von Dialog geredet, doch nichts davon wurde umgesetzt. Ein gewichtiger Punkt ist auch, dass die katholische Kirche die Frauen weiterhin nicht wahrnimmt. Es sind eine Menge Punkte, die die Leute schließlich aus der Kirche treiben. Der gemeinsame Nenner ist: Die Kirche geht seit Langem nicht mehr darauf ein, wie Menschen heute denken. Auf diese Weise hat sie selbst viel dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen sich desinteressiert
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