Meine Wut rettet mich
Rücksicht vor dem Einzelnen. Wenn ein Mitbruder etwas zerbricht, muss doch nicht jeder etwas davon erfahren. Anders ist es, wenn es eine öffentliche Angelegenheit wird. Wenn sich jemand wegen eines Kindes vom Kloster trennen will, so ist das zu respektieren. Nur kann er eben nach derzeitigem Kirchenrecht nicht mehr als Priester wirken. Wir sollten allerdings bedenken, dass es viele uneheliche Kinder gibt, deren Väter nicht bekannt sind.
Und wenn es andere betrifft? Wenn es Opfer gibt?
Dann ist es anders. Opfern muss geholfen werden, Täter müssen bestraft werden. Heute kann man nicht früh genug selbst damit herauskommen, wenn etwas vorgefallen ist. Es wird sowieso alles öffentlich. Es gibt keine »privacy« mehr. Ein viel größeres Problem ist: Unsere Gesellschaft kann nicht mehr vergeben. Das ist ein Zeichen der Entchristlichung. Früher hat man oft gesagt: »Das ist menschlich«. Nicht im Sinne von: »Es ist nicht so tragisch, das spielt keine Rolle.« Sondern: »Es ist menschlich, dass es so etwas gibt, wir tragen das mit.« Ich kenne Leute aus Personalabteilungen, die versuchen, Kollegen, die alkoholabhängig sind, zu helfen, wieder hochzukommen, ohne dass die Alkoholabhängigkeit aufgedeckt wird. Das finde ich gut. Man muss nicht alles an die Öffentlichkeit zerren. Das bedient oft nur den Voyeurismus und die selbstgerechte Verurteilung anderer.
Wir haben über Doppelmoral, Glaubwürdigkeit, Respekt und Vertrauen gesprochen. Wie würden Sie Menschen, die aus irgendwelchen Gründen ihr Vertrauen in die Kirche verloren haben, zur Kirche zurückführen?
Nehmen wir wieder das Beispiel der Missbrauchsfälle. In der Kirche wurde jetzt bei der Aufklärung wahrscheinlich mehr Transparenz geschaffen als bei anderen Einrichtungen des öffentlichen Lebens, und es wurden Vorkehrungen getroffen, damit Vergleichbares nicht mehr verborgen werden kann. So kann wieder Vertrauen und neue Glaubwürdigkeit entstehen. Aber das Problem liegt heute woanders.
Wo?
Mir rät man: Ich solle bloß nicht sagen, dass das, was in der Kirche geschehen ist, schätzungsweise nur etwa 0,3 Prozent der Fälle ausmacht. Es gehe mich nichts an, was die anderen tun. Ich will damit gar nichts verharmlosen. Im Gegenteil. Unsere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sprach sich gegen die Anzeigepflicht für Opfer aus, vermutlich weil sonst viele Kinder ihre Väter und Onkel anzeigen müssten. Das Problem ist bekannt, wird aber tabuisiert und nicht angegangen. Ich verstehe, dass man Familien nicht noch mehr zerstören will. Wenn ich auf den Missbrauch in Familien und öffentlichen Organisationen hinweise, wird mir sofort unterstellt, ich bagatellisiere die Fälle in der Kirche. Wir haben eine Einseitigkeit der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zulasten der Kirche.
Woher kommt dieses Ungleichgewicht?
Dahinter steckt eine breite antikirchliche Haltung, weil die Kirche in puncto Sexualität und auch in anderen Bereichen zu wenig menschlich war. Ich kann Prinzipien vertreten, brauche aber auch ein pastorales Wort für die menschlichen Nöte. Weil das nicht erfolgt ist, wuchs die Wut auf die Kirche.
Verhütung und Abtreibung sind Beispiele für den Konflikt der katholischen Kirche mit ihren Gläubigen. Was kritisieren Sie da?
Ich bin auch gegen Abtreibung. Aber in der Kirche fehlt das Mitgefühl. Ich habe noch selten ein Wort von offiziellen Kirchenleuten gehört über die Not, in die eine Frau kommt, der sich die Frage nach einer Abtreibung stellt. Mit Beratungsstellen schien man auf einem guten Weg zu sein, ins Gespräch zu kommen. Aber kaum waren diese eingerichtet, sollten sie schon wieder unterbunden werden, weil durch sie das Prinzip, Abtreibung sei Tötung des Lebens, verdunkelt würde. Daraufhin musste die offizielle Beratung weitgehend aufgegeben werden. Dabei ist der Beratungsschein kein Freischein; doch das wurde unterstellt. Ziel war ja, das Leben des Kindes zu retten. 39
Das Thema Ehescheidung ist ein weiterer Konfliktbereich.
In Deutschland ist jede dritte Ehe betroffen, in den USA jede zweite. Die Kirche kennt offiziell nur das Verbot der Wiederverheiratung. Denn nach kirchlicher Auffassung ist die einmal geschlossene Ehe unauflöslich. Die Frage ist, ob eine Wiederverheiratung den Empfang der Sakramente ausschließt; darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Das Problem liegt meines Erachtens nicht in erster Linie im Prinzip, sondern im Umgang mit diesem Phänomen. Man tut in der Kirche anscheinend
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