Meine Wut rettet mich
Bordell, im Festsaal einer Bank, im Kreis mehrfach zwangsgeräumter Familien, in Schulen, Kirchen und in allen Medien, ob Qualitätsformat oder Schmuddelprogramm. An Weihnachten 2004 erregte er Aufsehen, als er im Big-Brother-Container die Weihnachtsgeschichte vorlas.
»Medien ermöglichen eine offene Kirche«, sagt er. Und: Die Kirche müsse stärker als Medium für das Wort Gottes wahrgenommen werden. Nicht nur über das Internet. Er vermisse einen zeitgemäßen Fernsehsender, der sich Glaubensfragen widme. Gottesdienste zu übertragen, reiche nicht mehr aus. Das bestätigen die Quoten. Die ZDF-Übertragungen erreichen nur noch weit unter einer Million Zuschauer.
Die Überzeugung, dass mediale Öffnung wichtig sei, verbreitet sich allmählich. Jeremias Schröder, Erzabt von St. Ottilien und dort Nachfolger von Notker Wolf, appellierte bei einem Ordenskongress an die Teilnehmer, gezielt und aktiv in ihren Reihen Medientalente wahrzunehmen und sie ohne Neid zu fördern.
Paulus bezieht multimedial Position, argumentiert auf seiner Website www.bruderpaulus.de im Kolumnenstil gegen die Parlamentsentscheidung zur Präimplantations-Diagnostik (»Gott will, dass wir Leben so annehmen, wie er es schenkt«), argumentiert für Zölibat und gegen Abtreibung, die Pille, Kondome und die Scheidung. Und er macht öffentlich, was ihn privat betrifft. Wenn es exemplarisch ist. Als sein Vater starb, lud er Reporter zur Beerdigung ein. Die Todesanzeige seiner Mutter stellte er auf Facebook und wunderte sich, dass sich Leute entsetzten, obwohl dies doch öffentliche Ereignisse sind. Kurze Zeit habe er überlegt, ob er nicht als Tweet mitteilen solle, dass seine Mutter tot war. Er ließ es: »Das ging nicht. Denn es war ja ihr Tod.« Und sie hätte das wohl nicht gewollt.
Der Geistliche, der sich auf seiner Website als Kapuziner, Priester, Seelsorger, Therapeut, Autor, Coach, Keynote-Speaker, Moderator, Gastgeber, Mann, Spieler etc. vorstellt, überschrieb lange Zeit seine Internetpräsenz »Portal zum Menschen Bruder Paulus«. Sie soll die Tür öffnen für Gläubige und Zweifelnde. Fast hätte er sich selbst diese Tür zugeschlagen. Obwohl, vielleicht aber auch weil er »in katholischen Pantoffeln« aufgewachsen ist, in Stadtlohn, einer Kleinstadt im Münsterland, wo er 1959 als Bernd Terwitte geboren wurde. Er war Messdiener, Lektor und gestaltete Jugendgottesdienste. Mit 17 Jahren hatte er genug: »Ich wollte mich da nicht mehr eingliedern und tun, was der Pfarrer sagt.« Ein umsichtiger Kaplan fand Worte, die ihn berührten, indem er beschrieb, welcher langen Menschheitstradition die Rituale im Gottesdienst entsprangen. »Diese Vorstellung faszinierte mich, ich begann zu verstehen, was Christentum bedeutet.« Wenig später traf er auf einen Pfarrer, der die Kirche als Baum zeichnete: Jesus als Erde, in der Glaube, Liebe und Hoffnung wurzeln, das Gottesdienstritual als Stamm, die Zweige als Platz für alle Menschen – Kirchenleute, Handwerker … – »Da ging mir ein Kronleuchter auf«, sagt er. Entscheidend jedoch war eine Sommernacht 1977 in einem von Kapuzinern organisierten Ferienlager.
Es war halb zehn Uhr, die Jungs plauderten mit den Mönchen im Fernseh- und Rekreationsraum über den vergangenen Tag. »Plötzlich rieselte es mir den Rücken runter.« Noch heute überzieht ihn ein Schauer, wenn er davon erzählt. Er senkt die Stimme, richtet den Blick nach innen: »Mir war damals klar, würde ich nun reden, lag ich fest für mein Leben.« Er sprach es aus: »Ich glaub, hier bleib ich.« Laut. Vernehmlich. Wort für Wort fiel ihm wie ein Stein vom Herzen.
Wochen später erst, beim Nachmittagskaffee, offenbarte er sich seinen Eltern. »Man hält sich ja selbst für nicht normal, wenn man sich als von Gott Berührter erkennt. Das ist so intim wie die erste Freundin.« Zudem herrschte zu Hause seit Jahren Gewitterstimmung. »›Du musst lernen, mit den Händen zu arbeiten. Werd bloß nicht so intelligent‹, hat mir mein Papa gesagt. Mein Grundschullehrer setzte durch, dass ich wenigstens auf die Realschule konnte.« Vater Terwitte entschied jeweils am Wochenbett seiner Frau, was aus den Kindern zu werden habe: Der Erstgeborene sollte studieren, der zweite Papas Gärtnerei übernehmen, die Tochter einen reichen Bauern heiraten. »Ich werde weder Gärtner noch Kaufmann«, trotzte der 14-jährige Bernd. Er wechselte aufs Gymnasium, sein Vater sprach ein ganzes Jahr lang kein Wort mit ihm. Auch als der Sohn ihm nun
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