Meine Wut rettet mich
so befreiend, wie zweieinhalb Stunden in der Kirche zu beten und zu singen. Und wir werden sensibilisiert, wie oft wir mit dem Wort »Freiheit« an der Nase herumgeführt werden – von der Politik, von Unternehmen, von der Werbung … Die Kirche als Institution muss sich besinnen, vor Ort der Ort zu sein, an dem man die freie Luft des Gebets atmet. Eine solche Erweckungsbewegung täte uns gut. Mir liegt an der Erweckung im Selbstbewusstsein der Menschen. Und ich plädiere für den Weg der Armut, also des Sich-Loslösens von allem, was mit Geld und Materiellem zu tun hat.
Kulturell und historisch hat die Kirche unsere Gesellschaft entscheidend geprägt, sie war Orientierungs- und Deutungsmacht. Inwiefern prägt sie heute?
Sie wirkt in vielen Diskussionen mit, wie zum Beispiel bei der Präimplantationsdiagnostik und so fort. Aber das ist eigentlich nicht die Frage. Ich will gar nicht gefragt werden, wie die Kirche als Institution prägt, das hört sich so herrschaftlich an. Ich will, dass die Werte des Evangeliums prägen. Ich will die Menschen auch nicht durch meine Worte prägen, sondern ihnen so begegnen, dass Werte in ihnen aufgehen, die Gott in sie hineingeschrieben hat.
Wie kann die Kirche sich so gebärden, dass Menschen Lust bekommen, das Evangelium in sich zu entdecken und zuzulassen?
In Frankfurt tun wir das, indem wir wieder alternative Gottesdienstformen entdecken, die Kirche bis 21.30 Uhr geöffnet haben, eine Latte von Schwellenangeboten haben, bei denen die Menschen feststellen können, dass der liebe Gott wirklich nicht beißt. Wir haben hier einen Obdachlosentreff, die Kirche hat viele karitative Einrichtungen, in denen auch die Mitarbeiter vom Evangelium geprägt sind. Wir werben, Schwachen eine Chance zu geben. Eine Gruppe von Eltern mit behinderten Kindern erzählte, wie oft ihnen vorgeworfen wurde, dass sie ihre Kinder nicht abgetrieben haben. Wir nehmen diese Kinder in unsere Mitte. Wir nehmen die Herausforderung an, wenn ein autistisches Kind, das auf die heilige Kommunion vorbereitet werden soll, im Gottesdienst schreit. Ich appelliere zu Beginn der Messe, dieses Kind als eine Stimme Gottes willkommen zu heißen. In zwei Wochen kommen Eltern zum Gespräch, weil ihr schwerstbehindertes Mädchen ministrieren möchte. Ein Mädchen, dem die Spucke aus dem Mund läuft und das zwei Helfer braucht. Das ist Kirche. Da werden Eltern geprägt, da werden Leute geprägt, da werde ich geprägt.
Im Jahr 2010 geriet die katholische Kirche durch die vielen bekannt gewordenen Missbrauchsfälle und durch deren Vertuschung in eine tiefe Vertrauenskrise. Nie zuvor haben sich in Deutschland so viele Katholiken abgewendet und sind ausgetreten.
Jede einzelne Tat ist furchtbar. Es ist furchtbar, wie grausam hier Seelsorger Schutzbefohlene für ihre persönlichen Interessen missbraucht haben. Ich begleite Opfer, es ist fast nicht zum Aushalten, welches Leiden und welche Schäden da entstanden sind.
Wieso konnte sich eine solche Unkultur des Vertuschens so lange halten?
Die Kirche hat das Thema »Scheitern« nicht bewältigt. Man versuchte, fromme Soße über unfrömmste Sachen zu kippen. Das Evangelium hat aber der Wahrheit zu dienen, keinem bürgerlichen Wohlfühlkatholizismus.
Inwiefern hat das die Institution Kirche beschädigt?
Wer einigermaßen erleuchtet darüber nachdenkt, wird wissen, das kommt überall vor. Kern des Skandals ist die Vertuschung. Es ist ein Skandal, dass Bischöfe und Verantwortliche, die die Macht gehabt hätten, den Täter mehr geschützt haben als die Opfer. Ich bin erschüttert, dass kirchliche Autoritäten ihre Pflichten da so vernachlässigt haben. Gottseidank ist dies abgestellt.
Auch Ihre Gemeinschaft ist betroffen.
Auch bei den Kapuzinern in Deutschland gab es in vier Fällen Brüder, die so gehandelt haben, auch bei uns wurde vertuscht. Wir haben, wie das Erzbistum München, eine Rechtsanwaltskanzlei beauftragt, um herauszufinden, welche institutionellen Voraussetzungen dazu führten, dass diese Fälle nicht ordentlich geklärt worden sind. Wir stellen uns diesem Problem.
Wurde insgesamt genügend getan, damit solche Vertuschungen nicht wieder möglich sind?
Der Bischof von Limburg will von jedem Priester und jedem Hauptamtlichen nun alle fünf Jahre ein erweitertes Führungszeugnis, ausgestellt vom Einwohnermeldeamt, sowie eine Selbstverpflichtungserklärung zur Achtsamkeit im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Es gibt Präventionsbeauftragte. Ich finde, es wird viel
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