Meine zwei Halbzeiten
nehmen müssen, um aus ihr herauszukommen. Auf der Transitstrecke wäre ich sofort verhaftet worden.
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Vergiftung im Auftrag der Stasi
|201| Seit ich im Westen war, verfolgte ich aufmerksam, wie Lutz Eigendorf sich verhielt, der eine Woche vor mir Republikflucht
begangen hatte. Er trat sehr provokativ auf, besonders im Fernsehen, kritisierte den Staat drüben massiv, sodass ich mich
fragte, wie lange sich die Stasi das gefallen lassen würde. Eigendorf hatte beim BFC Dynamo gespielt, wie gesagt, Mielkes
Lieblingsverein. Aber dieser Club wurde nicht nur vom MfS und dem Ministerium des Innern (MdI) gefördert, sondern auch von
der Polizei. Das bedeutete, dass sie die Spieler anstellte und bezahlte. Je erfolgreicher ein Fußballer war, umso höher war
sein Dienstgrad, und umso höher fiel der Verdienst aus. (Ähnliches galt bei Vereinen der Volksarmee, zum Beispiel ASK Vorwärts
Frankfurt/Oder, der dem Armeegeneral Heinz Hoffmann unterstellt war.) Vor diesem Hintergrund konnte Eigendorfs Flucht nur
als persönliche Niederlage Mielkes gewertet werden – einer seiner Zöglinge hatte «rübergemacht».
Norbert, Jürgen und ich verstanden angesichts dieser besonderen Situation Eigendorfs Auftreten nicht. Anscheinend war er davon
überzeugt, dass ihm nichts passieren konnte. Zu seinem Berater Volker Klemme sagte ich einmal, er solle mehr Obacht auf seinen
Spieler geben. Vorher hatte ich ihn selbst gewarnt: «Mensch, Lutz, hör auf mit diesem Quatsch. Fahr nicht immer deiner alten
Mannschaft nach. Wenn der BFC in Hamburg spielt, dann geh nicht zu deinen ehemaligen Kollegen ins Hotel oder an die Bar, um
ihnen zu zeigen, wie gut es dir im Westen geht. Die Funktionäre können das nur als Abwerbeversuch ansehen.» Eigendorf, der
sicher einer der talentiertesten von den geflüchteten DD R-Spielern war, zeigte keine Einsicht, wollte keinen Rat annehmen.
Einige Wochen vor seinem tragischen und rätselhaften Unfall im März 1983 waren wir beide für einen Fernsehbeitrag nach Berlin
eingeladen worden.
Kennzeichen D
plante einen Bericht über den DD R-Fußball . Diese längst eingestellte ZD F-Sendung |202| behandelte deutsch-deutsche Themen, um Interesse und Verständnis für das Leben im jeweils anderen Deutschland zu fördern.
Mein Interviewtermin war einen Tag früher als der von Eigendorf angesetzt. Man wollte mich vor der Mauer befragen, was ich
aber ablehnte. Denn ein Gespräch vor dem «antifaschistischen Schutzwall» wäre einem politischen Bekenntnis gleichgekommen,
das wollte ich vermeiden. Als man mich fragte, welchen Ort ich mir stattdessen vorstellen könne, schlug ich das Olympiastadion
vor.
Lutz jedoch lehnte eine Befragung vor der Mauer nicht ab. Im Hintergrund war sogar das Stadion zu sehen, in dem er früher
beim BFC Dynamo gespielt hatte – eine größere Provokation war kaum vorstellbar. Seine Aussagen zu den sportlichen Aspekten
stimmten im Großen und Ganzen mit dem überein, was ich gesagt hatte. Nur fügte er hinzu, wie toll es ihm im Westen gehen würde,
verwies wieder einmal auf die politischen Mängel des DD R-Systems und des Ostfußballs. Als ich diesen Auftritt später im Fernsehen verfolgte, machte ich mir ernsthaft Gedanken um Lutz.
Es war davon auszugehen, dass Eigendorf, der inzwischen vom 1. FC Kaiserslautern zu Eintracht Braunschweig gewechselt war, genauso bespitzelt wurde wie ich, wenn nicht sogar noch stärker.
Als er am 5. März 1983 einen Autounfall hatte, bei dem er lebensgefährlich verletzt wurde und zwei Tage später starb, konnte ich das nur
in einem Zusammenhang mit seinen Äußerungen vor der Mauer und anderem, ähnlich provokantem Verhalten sehen. Die Obduktion
ergab, dass er einen hohen Alkoholgehalt im Blut hatte, am Abend vorher soll er aber laut Aussagen von Vereinskollegen nur
wenig getrunken haben. Die
Bild-
Zeitung brachte nach seinem Tod eine Schlagzeile heraus, die das Wort «Mordverdacht» hervorhob. Ich sagte gegenüber der Presse,
dass ich nicht an einen Unfall glaube. Immer wieder fragte ich mich, ob der BND ihn nicht genügend schützen konnte, ja, vielleicht
versagt |203| hatte. Es war naheliegend, sich Gedanken zu machen, was das für mich selbst bedeutete.
Hinterher erfuhr ich, dass das Auto, mit dem Lutz den Unfall baute, nicht richtig untersucht worden war. Damals glaubte man
einfach noch nicht, dass es sich um eine beabsichtigte Tötung gehandelt haben könnte. Heute, nach über
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