Meine zwei Halbzeiten
fünfundzwanzig Jahren,
spricht vieles für einen Stasi-Mord. Einen absoluten Beweis gibt es jedoch nicht. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass die
Stasi Lutz möglicherweise heimlich ein pupillenerweiterndes Mittel verabreicht hat, um ihn gezielt zu blenden. In seinen Stasiakten
steht: «Eigendorf verblitzt.»
Von diesem Tag an ließ ich regelmäßig mein Auto bei verschiedenen Werkstätten überprüfen. Plötzlich fielen mir auch einige
merkwürdige Vorfälle aus der Zeit, in der ich nach Köln pendelte, wieder ein. Einmal hatte sich bei Tempo 160 ein Rad gelöst,
mehrmals waren meine Reifen zerstochen worden. Jetzt konnte ich mir einen Reim darauf machen: Ich hatte eine Ahnung davon
bekommen, wie weit das MfS gehen konnte.
1983 war ein Jahr, in dem sich auch sonst die Ereignisse überschlugen. Vier Jahre nach meiner Flucht fing ich als Cheftrainer
beim KSV Hessen Kassel an, einem Zweitligisten, der auf dem Sprung in die Erste Bundesliga stand.
Die Zeit dort begann sehr schön. Chris kündigte ihren Job in der Düsseldorfer Werbeagentur und entschied sich für eine ungewisse
Zukunft mit mir, obwohl ich so uncharmant gewesen war, ihr zu sagen: «Wenn du mit nach Kassel kommst, heißt das nicht, dass
ich dich heirate.» Zusammen bezogen wir ein hübsches Reihenhaus in der Marburger Straße. Vorher entdeckte Chris noch eine
Art Geheimnis von mir. Beim Umzugskistenpacken stieß sie auf meinen Vorrat von etwa 200 Konservendosen: Ananas, Erdbeeren, Ravioli und vieles mehr.
«Was soll das denn?», fragte sie fassungslos.
|204| «Na ja, wer weiß, wann es diese Sachen wieder gibt», antwortete ich etwas verlegen.
«Aber die kannst du doch jeden Tag im Supermarkt kaufen!»
So ganz überzeugen ließ ich mich davon nicht, aber sie machte mir ziemlich deutlich, dass dies ihr erster und letzter Umzug
mit einem Konservenlager sein würde.
Chris fuhr öfter in die DDR und hielt Kontakt zu meinen Eltern, auch zu Ron. Dabei verfolgte sie die Stasi auf Schritt und
Tritt, ohne dass sie etwas davon ahnte. Sie half, als mein Vater und meine Mutter in die BRD übersiedelten, nur wenige Wochen
nachdem wir unsere Zelte in Kassel aufgeschlagen hatten. Die Entscheidung dazu fiel meinen Eltern leicht. Obwohl Rentner,
durften sie, weil ihr Sohn ein RF, ein Republikflüchtling war, nicht ins Ausland reisen, weder ins westliche noch ins östliche.
Ich hatte sie so gut wie möglich unterstützt, aber ich konnte ihnen nicht helfen, wenn das Dach kaputt war und es in ihre
Wohnung hineinregnete – Reparaturen wurden einfach nicht durchgeführt, Beschwerden ignoriert. Außerdem hatten sie das Gefühl,
bespitzelt zu werden. Das alles führte dazu, dass sie einen Ausreiseantrag stellten. Monatelang saßen sie auf gepackten Koffern,
lebten auf Abruf: Als sie ihren Bescheid zur Ausreise bekamen, mussten sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Land verlassen.
Als sie anfangs bei uns lebten, berichteten sie, man hätte in einem großen Hörsaal der Deutschen Hochschule für Körperkultur
vor Hunderten von Sportlern verkündet, ich, der «Sportverräter Berger», hätte seinen Sohn, seine Frau und seine Eltern im
Stich gelassen. Dass ich bei meiner Flucht längst geschieden war, wurde stets verschwiegen. Auch erzählten sie, dass viele
aus der Nachbarschaft sie heimlich angesprochen, sie seelisch unterstützt hätten – aber natürlich gab es auch die anderen,
die Staatstreuen, die sich abwendeten.
Mein Vater, der früher nie in den Westen gewollt hatte, lebte |205| nun doch hier. Noch in Leipzig hatte er zwei Herzinfarkte gehabt, wenige Monate nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik
bekam er einen dritten. Der Stress der Übersiedelung war zu groß gewesen, die Verhöre im Aufnahmelager von Gießen hatten ihn
stark belastet. In gewisser Weise bestätigte sich das ungute Gefühl, das ich trotz aller Freude bei den Übersiedelungsplänen
meiner Eltern empfunden hatte: Alte Bäume verpflanzt man nicht.
So erlebte er leider nicht mehr mit, dass ich Chris schließlich doch heiratete. Ein konkretes Ereignis veranlasste diesen
Sinneswandel. Wir waren zu einem offiziellen Empfang im Kasseler Rathaus eingeladen. Jeder trat auf mich zu, jeder begrüßte
mich – und meine Begleiterin wurde völlig ignoriert. Nach diesem Abend sagte ich mir: «Nicht noch einmal!» Natürlich heiratete
ich Chris nicht, damit man sie als Frau Berger wahrnahm und entsprechend ansprach. Ich hatte mich
Weitere Kostenlose Bücher