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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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Stunde hatten wir im Radio etwas gehört, was unbegreiflich schien. Was der Sprecher sagte, hatte ich nicht
     erwartet, trotz der vorausgegangenen Montagsdemonstrationen: Die Grenzen sollten geöffnet werden. Danach wurde ein Originalton
     eingespielt, in dem SE D-Politbüromitglied Günter Schabowski verkündete: «Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem
     Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.» Und zwar: «Ab sofort.» War das eine Finte? Das
     konnten die doch nicht ernst meinen? Einen solchen Befehl gab das Politbüro nicht einfach aus. Nach meinen Erfahrungen war
     es undenkbar, dass die Mauer einmal fallen würde, darauf hätte ich jede Wette abgeschlossen.
    «Wo bleibst du denn?», fragte Rainer kurz vor Spielbeginn. Er hatte zwar auch von dieser Sensation gehört, war aber relativ
     schnell wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt, weil er die Situation nicht richtig einzuschätzen wusste. Noch waren die Grenzen
     nicht auf, das sollte erst um Mitternacht geschehen.
    «Ich muss unbedingt die
tagesschau
sehen», erwiderte ich. «Kannst du für mich ein paar Aufzeichnungen machen?» Rainer nickte.
    Ich fühlte mich wie in Trance, konnte ebenso wie er kaum verstehen, was da vor sich ging. Wieder hörte ich Schabowskis ungeheuerliche
     Worte, dieses Mal konnte ich sein Gesicht sehen, |221| während er sie formulierte. Stand der Mann etwa unter Drogen? Aber dafür gab es keine Anhaltspunkte. Es schien tatsächlich
     zu stimmen, was behauptet wurde. Mit dieser Gewissheit überlegte ich mir, ob eine solche Maßnahme überhaupt unblutig vonstatten
     gehen konnte. Nach meiner Flucht hatte ich erlebt, wie aggressiv und brutal die Stasi sogar im Westen agierte – und das alles
     sollte sie jetzt plötzlich über Bord geworfen haben? Wie konnte man etwas kampflos aufgeben, wo uns DD R-Bürgern immer gesagt wurde, ihr müsst für den Sozialismus kämpfen, in diesem Staat leben die besseren Deutschen?
    Später am Abend sah ich in den T V-Nachrichten die ersten Bilder von der Bornholmer Straße. Die fassungslosen Gesichter der Grenzbeamten, die jahrzehntelang jede Grenzverletzung
     melden mussten, zum Schießen verpflichtet waren – nun rannten die Menschen an ihnen vorbei. Unvorstellbar! Ich war aufgelöst,
     weinte. Doch der wichtigste Gedanke, der mich die ganze Nacht über verfolgte: Sollte es wirklich wahr sein, dass ich jetzt
     in meine alte Heimat, die eigentlich für mich gestorben war, fahren konnte, um jederzeit meinen Sohn zu sehen? Konnte er jetzt
     ohne Schwierigkeiten zu mir kommen?
    Nur wenige Monate vor diesem unglaublichen Ereignis hatte ich Ron schon einmal in Prag getroffen, im Juni 1989.   Möglich wurde dies durch meinen Verein Eintracht Frankfurt, bei dem ich seit 1988 war, nachdem ich nach drei Jahren beim SC
     Freiburg aufgehört hatte. Aus dem beschaulichen Schwarzwald, wo wir in einem Bauernhaus mit Blick auf Berge, Wiesen und Kühe
     wohnten, waren meine schwangere Frau und ich in die Mainmetropole gezogen. Ich brauchte eine neue Herausforderung, da kam
     mir die verrückte Diva vom Main – wie die Fußballwelt den Verein nannte – gerade recht. Die Eintracht stand auf einem Abstiegsplatz
     der Ersten Bundesliga, wieder galt es, den Klassenerhalt zu erreichen.
    Entscheidend dafür war ein Auswärtsspiel Anfang Juni in Hannover gewesen. 25   000   Frankfurter Fans reisten in die niedersächsische |222| Landeshauptstadt, um die Eintracht anzufeuern und moralisch zu unterstützen. Es war ein heißer Tag gewesen, und die Begegnung
     endete mit einem Unentschieden. Kurz vor Spielende rettete Charly Körbel den Club mit einem Kopfballtor vor der Niederlage.
     Das reichte, um einen Schritt weiterzukommen, nicht sofort in die Zweite Liga abzusteigen. Wir waren damit in die Relegation
     gelangt, was bedeutete, dass der Drittletzte der Liga gegen den Dritten der Zweiten Liga spielen musste. In einer Woche würden
     wir entweder gegen Saarbrücken, Berlin oder Fortuna Köln antreten; der Sieger würde in der Ersten Bundesliga spielen. Ein
     Reporter der AR D-Sportschau hielt mir nach dem Unentschieden in Hannover ein Mikrophon vor die Nase und fragte mich mehrmals: «Welcher von den drei Vereinen
     wäre Ihnen denn am liebsten?» – «Das kann ich Ihnen nicht sagen», antwortete ich irgendwann, «am liebsten ist mir meine Frau.»
    Am Abend nach dem Spiel wurde ich mit dem Helikopter von Hannover aus nach Mainz

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