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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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laufen konnte, suchte ich einen Spezialisten in Kassel auf. Ein bewegungsunfähiger
     Coach war nicht gerade das, was in meinem Beruf erwünscht war. Wenn an die Öffentlichkeit kam, dass man meine Beine von den
     Füßen bis zum Knie und meine Hände bis zum Ellbogen abhacken konnte, ohne dass ich etwas merken würde – ich hätte meinen Beruf
     für immer an den Nagel hängen können.
    Eine Untersuchung nach der anderen wurde unternommen – doch eine zufriedenstellende Erklärung für meine Taubheit fand sich
     nicht. So lautete die Diagnose der Städtischen Klinik in Kassel: «Sensible Polyneuropathie unklarer Genese.» Als ich das hörte,
     war ich fertig mit der Welt. Nach nur einem Vierteljahr in Hannover hörte ich auf – es war meine negativste Zeit als Trainer,
     was auch daran lag, dass man überhaupt kein Vertrauen zu mir hatte, die Vertragsverlängerung mit fadenscheinigen Argumenten
     hinauszögerte. Es war notwendig geworden, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen: die Kündigung. Kurz danach begab ich |215| mich für drei Wochen ins Krankenhaus und wusste nicht, wie es im buchstäblichen Sinn weitergehen würde. Meine «sensible Polyneuropathie
     unklarer Genese» war so schlimm geworden, dass ich gar nicht mehr laufen und keinen Gegenstand greifen konnte.
    «Wie sieht meine Perspektive aus?», fragte ich den Arzt, der mich behandelte.
    «Ich weiß nur, dass Sie in der nächsten Zeit nicht arbeiten können», antwortete er. «Sie sind nicht fähig dazu.»
    «Und wie lange wird es dauern, bis das wieder möglich ist?»
    «Ein Jahr vielleicht.»
    «Das geht nicht. Ich kann in meinem Job nicht einfach ein Jahr aussetzen.»
    «Was Sie können, das müssen Sie selbst einschätzen.»
    Damit war das Gespräch beendet, verzweifelt lag ich in meinem Bett. Wenn ich mich kaum bewegen konnte, wie sollte ich da mit
     Vereinen verhandeln?
    Während ich mich mit diesen Gedanken beschäftigte, erzählte mir meine Frau während eines Besuchs im Krankenhaus, dass man
     meinen Sohn «ausdelegiert» hätte. Ron war inzwischen fünfzehn Jahre alt und ein großes Talent bei Lok Leipzig. Chris hatte
     an seiner Jugendweihe teilgenommen, wohin sie sogar mit meiner ausgereisten Mutter fahren durfte. Die Gespräche, die die beiden
     Frauen mit Harriet in der Bruno-Plache-Straße führten, wurden aktenkundig von der Stasi «abgeschöpft». Rudolf Röhrer, der
     sich in den vergangenen Jahren intensiv um meinen Sohn gekümmert hatte, war es nicht erlaubt, an den Feierlichkeiten teilzunehmen.
     Aufgrund seiner Position als Chefredakteur durfte er keine Westkontakte haben.
    Rons «Ausdelegierung» erfolgte vor einem Qualifikationsspiel der DD R-Nationalmannschaft gegen Holland im Leipziger Zentralstadion. Zu diesem Anlass sollte es ein Vorspiel geben, eine Begegnung von Jugendmannschaften,
     unter anderem Lok Leipzig. |216| Für die Jungen konnte es kein großartigeres Ereignis geben, zum ersten Mal spielten sie in einem so großen vollen Stadion.
    Kurz vor Spielbeginn kam Peter Gießner, mein ehemaliger Mitspieler, jetzt Präsident von Lok Leipzig, in die Kabine und sagte
     zu Ron: «Du brauchst dich gar nicht erst umziehen, du spielst heute nicht.» Als Ron sich von seinem Schock erholt hatte, wollte
     er den Grund für diese Entscheidung wissen. Man gab ihm zu verstehen: «Dein Name kann nicht auf der Anzeigentafel erscheinen,
     du bist der Sohn eines Verräters.»
    Später wurde immer deutlicher, dass man es für das Beste hielt, wenn er überhaupt nicht mehr Fußball spielen würde. Man hatte
     Angst, dass ein großes Talent wie er irgendwann an internationalen Begegnungen im Westen teilnehmen könnte. Und da sein Vater
     dort Trainer war, rechnete man mit Kurzschlussreaktionen, glaubte, er würde eines Tages ebenfalls im kapitalistischen Ausland
     bleiben. Das konnte man nicht riskieren. Ron spielte fortan unterklassig bei einem kleinen Verein, wo er der überragende Mann
     war.
    Nächtelang quälte ich mich, was dies für mein Verhältnis zu meinem Sohn bedeuten würde. Immerhin konnte er mich dafür verantwortlich
     machen, dass der große Lebenstraum von der Fußballerkarriere geplatzt war. Ich wollte ihn nicht verlieren, konnte ihm aber
     auch nichts erklären, weil es nicht möglich war, uns zu sehen. Zum ersten Mal zweifelte ich, ob ich mit meiner Flucht richtig
     gehandelt hatte.
    Wenigstens schienen sich langsam meine rätselhafte Lähmungserscheinungen zu bessern. Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen
    

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