Meine zwei Halbzeiten
ins
Sportstudio
geflogen. Als die Sendung lief und ich meinen Auftritt hatte, begrüßte man mich, sagte mir, dass auch meine Frau unter den
Zuschauern sei. «Und, Herr Berger, was machen die Zwillinge?», fragte Moderator Bernd Heller. Langes Schweigen. Romy und Julia
waren am 12. Mai zur Welt gekommen, aber ich war so perplex über diese Frage, dass ich sie nicht beantworten konnte. Ich hatte nur Punkte,
Tabellen, Gegner, die wichtigsten Spiele der Saison und ihre Ergebnisse im Kopf. «Und wie alt sind Ihre Töchter?» Erneutes
Schweigen. Heller wollte mir eine Brücke bauen – zwecklos. «Wie viele Wochen, Monate?» Bevor es für uns beide vollkommen peinlich
wurde, sagte ich: «Das kann ich Ihnen alles nicht beantworten. Fragen Sie mich lieber etwas über Fußball.» Meine Mutter war
die Erste, die nach der Sendung anrief und mir mehr als deutlich zu verstehen gab, dass ich mich für meinen Blackout schämen
sollte.
Dabei war der Tag, an dem Romy und Julia zur Welt kamen, einer der aufregendsten meines Lebens. Ich gebe zu, dass dies |223| nicht nur mit den Zwillingen zu tun hatte. Am selben Tag sollte die Eintracht gegen Kaiserslautern antreten. Stunde um Stunde
verging, die beiden Säuglinge hatten es keineswegs eilig, ihren ersten Schrei von sich zu geben. Ungeduldig bedrängte ich
schließlich den Professor: «Wenn sie jetzt nicht kommen, sehe ich entweder die Zwillinge nicht oder das Spiel gegen Kaiserslautern.»
Der Arzt meiner Frau, ein großer Fußballfan, lachte nur und sagte: «Haben Sie keine Sorge, Sie werden weder das eine noch
das andere versäumen.» So kam es dann auch, und ich bin mir nicht sicher, ob er vielleicht ein bisschen nachgeholfen hat.
Als die Eintracht gesiegt hatte, verkündete ich in der Pressekonferenz etwas unlogisch, aber es klang gut: «Zwei Punkte und
zwei Zwillinge.»
Am Ende kamen wir auch erfolgreich durch die Relegation, der dramatische Abstiegskampf war zu Ende. Erst jetzt wagte ich,
Nägel in die Wände unseres neuen Zuhauses in Dreieichenhain zu schlagen und Bilder aufzuhängen. Wir mussten nicht wieder umziehen,
was bei einem Abstieg durchaus möglich gewesen wäre. Der Klassenerhalt war aber noch nicht alles: Danach brachte ich die Eintracht
von ihrem Abstiegsplatz in den UEF A-Cup . Das war sicherlich einer meiner größten sportlichen Erfolge.
Die positive Entwicklung bei der Eintracht half mir, meinen Sohn in Prag zu treffen, weil im Aufsichtsrat des Vereins der
FD P-Politiker Wolfgang Mischnick saß. Er vermittelte über seinen Parteifreund und Außenminister Hans-Dietrich Genscher, dass ich für die
Reise in die Tschechoslowakei einen Diplomatenpass bekam. Mein Verein sorgte für zusätzliche Rückendeckung. So konnten Ron
und ich uns für drei Tage sehen – zehn Jahre nach meiner Flucht. Es war allerdings davon auszugehen, dass die Stasi Bescheid
wusste und das Treffen verfolgen würde. Ich hatte wegen der Reise mehrmals Harriet angerufen, und ihr Telefon wurde bestimmt
abgehört. Das ganze Unternehmen war ein Wagnis, und dass alles gut ausging, hatte sicher etwas mit dem Zeitpunkt zu tun. Nur
wenige Monate vor dem Mauerfall ging |224| es in der DDR drunter und drüber, sodass man sich nicht mehr mit der üblichen Aufmerksamkeit auf individuelle Fälle konzentrierte.
Es gab zwar noch nicht die Montagsdemonstrationen, an denen Ron später teilnahm, aber die von der Leipziger Nikolaikirche
ausgehende Friedensbewegung.
Auf der Strecke in die tschechische Hauptstadt – ich fuhr mit dem Auto durchs Fichtelgebirge, den Böhmerwald und Pilsen –
befiel mich große Angst. Vielleicht war man darauf aus, mich abzufangen. Knapp zwei Kilometer hinter der tschechischen Grenze
– nach Mitternacht hatte ich den Grenzübergang Waidhaus passiert – geschah es. Einige betrunkene Soldaten liefen völlig unkontrolliert
auf der Straße herum. Dabei streiften sie meinen Wagen, es gab einen gewaltigen Knall. Normalerweise hätte ich sofort angehalten
und wäre ausgestiegen, um nachzusehen, ob sich jemand verletzt hätte. Stattdessen verfiel ich in blanke Panik. Ich schaltete
die Lichter aus und beging Fahrerflucht. Mein einziger Gedanke: Ein Unfall würde zur Aufnahme meiner Personalien führen –
und letztlich zu einer Verhaftung. Nach einigen hundert Metern schaltete ich wieder die Scheinwerfer ein und raste nach Prag.
So schnell wie möglich wollte ich unter vielen Menschen sein, um unterzutauchen.
Die Sonne
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