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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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strahlte, als ich früh am Morgen im Hotel Forum ankam. Mit großer Erleichterung parkte ich meinen Wagen in der Tiefgarage.
     Soweit war es geschafft. Ron sollte mittags ankommen, ich ihn vom Bahnhof Praha hlavní nádraží abholen. Vorher dekorierte
     ich unser Zimmer mit den vielen Geschenken, die ich für ihn mitgenommen hatte.
    Als er aus dem Zug stieg, erkannte ich ihn sofort. Nur war er viel größer, als ich mir meinen achtzehnjährigen Sohn vorgestellt
     hatte, viel größer als ich, bestimmt ein Meter neunzig. Ich sagte ihm das auch.
    «Ich wiederum hätte nicht gedacht, dass du so klein bist», erwiderte Ron. «Im Fernsehen wirkst du viel imposanter.»
    |225| Es war ein seltsamer Moment: Der kleine Vater und der große Sohn umarmten sich vorsichtig, und das nicht nur, weil wir uns
     in einem sozialistischen Land begegneten und uns beide keineswegs frei fühlten.
    Nachdem wir Rons Sachen im Hotel abgeladen hatten – für seine Geschenke bedankte er sich übrigens sehr höflich   –, suchten wir ein Restaurant auf dem Hradschin auf. Mein Sohn wirkte gehemmt, erzählte kaum von zu Hause, auch wenig von
     seiner Mutter. Von Problemen, die er vielleicht wegen mir in den vergangenen Jahren hatte, berichtete er überhaupt nicht.
     Es war nahezu unmöglich, an ihn heranzukommen. Um unsere offensichtliche Fremdheit zu überbrücken, versuchte ich ihm zu erklären,
     warum ich ihn und die Familie verlassen hatte, was mich bewegt hatte, der DDR den Rücken zu kehren. Das sollte keine Entschuldigung
     sein, aber ich wusste, dass er meine ganzen Beweggründe nie von Harriet erfahren konnte, weil ich mich ihr gegenüber auch
     nicht offenbart hatte. Ron hörte mir schweigend zu, mit nachdenklichen, ein wenig traurigen Augen. In diesem Moment dachte
     ich erneut, dass es wohl ein Fehler gewesen war, zu fliehen. Aber es war nur ein kurzer Moment.
    Als ich mit meinen Erklärungen fertig war, fing mein Sohn langsam an, sich zu öffnen und mir etwas von seinen Einstellungen
     gegenüber dem sozialistischen Staat mitzuteilen. Beim Zuhören verstärkte sich das Gefühl, dass mein Sohn öfter über eine Flucht
     nachgedacht hatte. Schließlich sagte er etwas, was meinen Eindruck bestätigte: «Ich könnte mir auch vorstellen, im Westen
     zu leben.»
    Ich, der Vater, der selbst getürmt war, reagierte schockiert. «Das ist zu riskant. Wenn sie dich erwischen, das will ich mir
     gar nicht vorstellen. Es reicht schon, wenn ich bei denen auf der Liste bin.» Wenn man Ron an der österreichischen, ungarischen
     oder tschechoslowakischen Grenze je erwischen würde, er müsste für die Flucht seines Vaters mitbüßen. Ein unerträglicher Gedanke.
    |226| «Aber es ist nicht einfach, in der DDR zu leben und Sohn eines Verräters zu sein.» Ich erfuhr, dass er die Erweiterte Oberschule
     nur besuchen durfte, weil sich Rudolf Röhrer dafür eingesetzt hatte.
    Als er mir das sagte, musste ich erneut schlucken, doch ich blieb bei meiner Linie. «Schlag dir das aus dem Kopf. Wenn du
     wirklich im Westen leben willst, dann gibt es nur den Weg, dich freizukaufen.» Später brachte ich über den 2008 verstorbenen
     Wolfgang Vogel, einen DD R-Rechtsanwalt und Unterhändler beim sogenannten Häftlingsfreikauf sowie eine Kontaktperson von Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick,
     in Erfahrung, dass ich für Ron über 100   000   Mark zu zahlen gehabt hätte. Bei der Berechnung der Summe spielte nicht die Qualifikation des Freizukaufenden eine Rolle –
     ein Achtzehnjähriger konnte diesbezüglich schwer eingeschätzt werden   –, sondern die desjenigen, der die betreffende Person freikaufen wollte. Durch den bald folgenden Fall der Mauer wurde das
     hinfällig.
    Während des Essens sah ich mir Ron genauer an. Er war mein Sohn – optisch bestand da kein Zweifel. Aber er war viel weiter
     von mir weg, als ich es mir in meiner väterlichen Liebe erhofft hatte. Zu viel Zeit war vergangen, seitdem er mir aus dem
     Fenster nachgewinkt hatte. Er litt unter Einschränkungen, die ich verursacht hatte – da konnte kein ungezwungener Umgang aufkommen.
     Was hatte ich mir da bloß vorgemacht? Er konnte mich nur als Egoisten sehen, der seine eigene Freiheit wichtiger fand als
     seine Familie. Recht hatte er. Und eine äußere Ähnlichkeit bedeutete keineswegs, einen vergleichbaren Charakter zu haben.
     Ron war feinfühlig, sensibel, sehr zurückhaltend, fast zu brav.
    Um die Distanz zwischen uns weiter abzubauen, entschieden wir, ins

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