Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache.« Die ist so dumm. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 legen die Nazis von 800 000 Stimmen auf 6.4 Millionen zu, 1928 hatten sie zwölf, jetzt 107 Mandate. Goebbels: »Nach der Verfassung sind wir nur verpflichtet zur Legalität des Weges, nicht aber zu Legalität des Zieles. Wir wollen legal die Macht erobern, aber was wir mit dieser Macht einmal, wenn wir sie besitzen, anfangen werden, das ist unsere Sache.«
Wie so viele andere machen sich HG und auch Kurt die Dramatik der Entwicklung nicht klar. In Halberstadt und in Magdeburg ist von den Nationalsozialisten noch nicht viel zu spüren, und ihre Leute sind das nicht. Anfang 1931 hören sich Vater und Sohn »aus Neugier« Goebbels im Berliner Sportpalast an, und HG stellt fest: »eine lächerliche Versammlung, Vater ebenfalls ablehnend«. Vom Wohnzimmerfenster der »verehrungswürdigen Mutter« Körte aus beobachtet er eine Straßenschlägerei zwischen SA und Kommunisten und notiert angewidert Horaz ins Tagebuch: »Odi profanum vulgus et arceo« – ich hasse den gemeinen Pöbel und meide ihn.
Wenig später hat er ihn im Haus, mitgebracht ausgerechnet von Wolf Yorck und seiner Frau. Die fallen mit fünf SA-Leuten bei HG und Else ein auf der Durchreise nach Bad Harzburg. Wie kommt es dazu? Im Oktober 1931 trifft sich dort die »nationale Opposition«. Da sind sie alle versammelt – Deutschnationale, Stahlhelm, Reichslandbund – das sind die Großagrarier – Alldeutscher Verband, auch vorgeschobene Sondierer der Ruhrindustrie (nach dem Motto: Erst mal gukken!), zahlreiche Mitglieder ehemals regierender Häuser, der Ex-Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der Ex-Chef der Heeresleitung General Hans von Seeckt, allesamt verbandelt in der »Harzburger Front«. Die wollen das Reich restaurieren, beschwören den »von uns gewählten Reichspräsidenten von Hindenburg, daß er dem stürmischen Drängen von Millionen vaterländischer Männer und Frauen, Frontsoldaten etc. etc.« Im Klartext: Eine wirklich nationale Regierung muß her.
Hitler hat man bei dieser Veranstaltung nicht rauslassen können und wollen. Es muß doch möglich sein, den Mann mit den riesigen Wahlerfolgen, den Mann, der die nationale Idee so gekonnt unter die einfachen Leute trägt, diesen Kerl einzuspannen, zu benutzen mit seinem erstaunlichen Potential für die gemeinsame Sache. Hitler, gerade zurück von einem ersten Zusammentreffen mit Reichspräsident Hindenburg, führt die versammelten Konservativen vor. Daß die Sache nicht gemeinsam ist, läßt er sie wissen, kaum daß seine SA als erste in makelloser Formation an der Tribüne vorbeimarschiert ist. Stahlhelm-Paradisten und wer immer sonst noch kommt, interessieren Hitler nicht. Er verschwindet ostentativ, geht einfach und grußlos – mit den »alten« Rechten hat er nichts zu tun. Seine Bewegung ist jung, strahlt nach vorn. Er braucht die anderen nicht.
Fünf von den Marschierern haben die Nacht vor dem Spektakel in Halberstadt bei HG und Else geschlafen, zu kurz allerdings, denn es wurde bei Moselwein noch bis in die frühen Morgenstunden »debattiert«. HG: »Ich bin sehr schlecht gelaunt.« Alle bedanken sich artig im Gästebuch für die »hervorragende Aufnahme«, »vergelten wollen wir es im Dritten Reich«, einer vermerkt korrekt »Einquartierung! Anläßlich des Harzburger Aufmarsches der SA«. Alle unterschreiben mit »Heil Hitler«, auch Wolf und Anne Yorck. Das Gästebuch geht von HGs und Elses Hochzeit bis 1949. Es quillt über von Freunden, zufällig Vorbeikommenden, Ferienkindern, Familie. Das ändert sich auch nicht im Dritten Reich. Die SA-Gäste und die Yorcks aber bedanken sich als einzige in all den Jahren mit dem »deutschen Gruß«, und HG hat ein »flaues Gefühl«.
Vielleicht ist es der Ärger darüber, daß Wolf Yorck ihm den »profanum vulgus«, den gemeinen Pöbel der Braunhemden ins Haus schleppt, vielleicht ist er verunsichert, denn der Freund war bisher immer eine politische Autorität für HG. Aber etwas verändert sich seitdem: keine Königs-Jagden mehr bei Yorcks in Schleibitz, keine gemeinsamen Wanderungen im Thüringer Wald. Im Gegensatz zu den Granzows, das sind die »Edelmenschen« aus Schleibitz, die zu handfesten Freunden wurden und bis Kriegsende immer wieder auftauchen, schleichen sich die Yorcks mitsamt Wolfs »Idealen« aus den Unterlagen. Einmal noch finde ich ihn im Gästebuch 1934 mit einem Vers, der
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