Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
»Else wieder vernünftig« – ich wäre ihm an die Gurgel gegangen, wenn das mir gegolten hätte. »Ich bin sehr verliebt und trotzdem unglücklich«, heißt es, und am Tag, als Clärelieses mögliche Schwangerschaft vormittags zwischen Helmuth und HG unter Männern besprochen wurde – HG: »Er ist großartig!« –, steht da »abends Bridge der ›vier Wissenden‹. Wie ist das alles merkwürdig – schrecklich und schön!« Else schreibt auf: »Hinrichs Bridge. Denkwürdiger Abend.« Das ist krank, das Ganze: Die haben zusammen sechs kleine Kinder, die gemeinsam auf dem Rasen am Bismarckplatz herumtoben. Die Sprößlinge schlafen mal hier, mal da, die dänischen Haustöchter werden ausgetauscht, man hilft sich aus mit Ski-Klamotten, Cocktailshakern, Cello-Noten – wir sind eine ach so glückliche, große Familie, nicht wahr?
Doch sie halten es nicht aus. Am 21. Dezember 1930 gehen HG und Helmuth ins »Hilarius« essen, das ist das Restaurant für feine Gelegenheiten in Halberstadt. So etwas haben die beiden Herren bisher noch nie getan, aber das hier ist offenbar Männersache. Danach nämlich ist Schluß. Nicht wirklich Schluß – Hinrichs’ tauchen auch 1931 und später im Gesellschaftsbuch auf, aber nicht mehr bei jeder Gesellschaft. Es ist in HGs Tagebuch auch nicht mehr von nächtlichen Besuchen »an Clärelieses Bett« die Rede. In der Familie Hinrichs wurde ein silbernes Zigaretten-Etui gehütet, wo HG hat eingravieren lassen: »Man kehrt immer zu seiner ersten Liebe zurück!« Ich finde den Satz eine Frechheit. Cläreliese und HG haben allerdings in den 30er Jahren häufig Gelegenheit gesucht und gefunden, die frühere Gemeinsamkeit wieder aufleben zu lassen.
Cläreliese ist es wohl auch, die als erste versucht, HG zur Ordnung zu rufen, als der jetzt völlig aus dem Ruder läuft: »Ernste Unterhaltung mit C. über meinen schwärzesten Punkt. Sehr verzagt nach Hause«. Kann man die Affaire mit den Hinrichs’ vielleicht noch als eine richtige Liebesgeschichte werten, wie sie in den besten Familien vorkommt, ist bei HG inzwischen eine Sicherung durchgeknallt. In seinem Resümee für das Jahr 1934 stellt er fest, es gehe seiner Familie gut, ihm selbst gehe es »unerhört gut, nur sind oft Sorgen da wegen vieler anderer Frauen um mich«. Wessen Sorgen bitte? Er führt minutiös Buch, auch Überlappungen und die dementsprechenden Konflikte listet er auf. Für mich ist da kein Unterschied zu seinen Jagderfolgen, die ich ebenfalls nachlesen kann: »Gesamtstrecke 520, ich werde mit 32 Hasen + einer Schnepfe Jagdkönig.« Ich habe keine Lust, mich da reinzuhängen. Der Mann ist erwachsen. Es ist sein Leben. Nur eine Geschichte muß ich erzählen, bei der mir dann doch die Luft wegbleibt.
Es gab, gibt immer noch, eine dänische Familie, nicht verwandt, mit der Else und HG Sommer für Sommer glückliche Ferien verbracht haben. Die drei Kinder waren nacheinander Haustöchter in Halberstadt, alle drei gehörten zu meinen Lieblings-Dänen, die älteste war meine Ersatzmutter über Jahre bis zu ihrem Tod 1968. Die zweite, Anette, habe ich, bevor sie starb, 1999 besucht in ihrem Pflegeheim in Kopenhagen. Sie war in Halberstadt 1934, damals war sie 17, ein Bild von einem Mädchen. Ich habe sie nach HG gefragt, und im Gesicht der alten Dame blühte ein Strahlen auf. Was für einen Charme dieser Mann gehabt habe, wie liebevoll er war und wie unsterblich verliebt sie in ihn gewesen sei: »Wenn er mir mein monatliches Geld aushändigte, wollte er, daß ich ihn für jede zehn Mark küsse. Else fand das ärgerlich, doch das war toll!«
Plötzlich der Satz: »Jeg gick i seng med ham« – ich bin mit ihm ins Bett gegangen. Ihre Schwester, auch schon eine alte Dame, saß mit mir an Anettes Bett, wir guckten uns wortlos an. Und dann erzählte Anette, daß HG sie gebeten habe, sich bei ihm zu melden, wenn sie von ihren Festen – es gab immerzu Tanzereien mit den jungen Leutnants von der Garnison – daß sie ihm kundtue, wenn sie zuhause sei, denn schließlich habe er die Verantwortung für sie. Else war verreist. Eines Nachts, nach ihrem »Ich bin wieder da«-Gewinke an seiner Schlafzimmertür, habe er die Hand ausgestreckt und sie in sein Bett gezogen. Sie habe bis zum Morgen dort geschlafen.
Das Glück jener Nacht leuchtete noch einmal in Anettes Gesicht, sie war plötzlich wieder 17 und sehr schön. Verlegen war sie auch, sie wurde sogar rot, noch nie habe sie jemandem davon erzählt, aber nun werde sie
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