Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
»Eierschale« Dixieland getanzt. Else hat den Verlust der Freunde, die vor ihr starben, sehr betrauert.
Trotzdem ist diese schöne Geschichte nur zur Hälfte richtig. Cläreliese und HG lassen sich schon während Clärelieses Schwangerschaft miteinander ein; die im Frühjahr 1929 geborene Tochter der Hinrichs’ hat mir unlängst erzählt, sie habe gelegentlich Sorge, ob sie nicht doch HGs Kind sei. Ich konnte sie beruhigen. Aber irgendwann im Spätherbst 1929 entsteht begründete Angst, Cläreliese sei jetzt von HG schwanger – HG in seiner griechischen Geheimschrift im Tagebuch über eine Nacht im Hotel: »Großer Schreck wegen Kinderkriegens«. Dreimal darf man raten, was da passiert ist, das Problem löst sich zum Glück von selbst.
Solche Katastrophen und auch sonst alles regeln diese Menschen zu viert, denn ob aus Trotz oder aus Neigung – Else und Helmuth haben sich ihrerseits verbandelt. Das ist eine Ménage à quatre, die mich staunen läßt. Bis Weihnachten 1930, das sind zwei Jahre, hängen die zusammen wie Pech und Schwefel. Es vergeht kaum ein Tag, es sei denn, jemand ist auf Reisen, ohne wenigstens einen kurzen Besuch am Morgen oder einen gemeinsamen Mittagsschlaf. Wenn HG und Else Gäste haben und Hinrichs’ sind zufällig nicht dabei, geht HG für zwei Stunden weg, um Cläreliese zu besuchen. Wenn Else in den Harz zum Skifahren will, fährt sie mit Helmuth.
Und sie spielen Bridge. Jeden Abend, den sie erübrigen können, und sie schaffen sich viele, spielen sie Bridge. Die lesen nicht mehr, keine Briefmarken, HG spielt nicht mehr Klavier – sie spielen Bridge. Ich habe in HGs Tagebuch gelbe Zettel geklebt für jeden Bridge-Abend, ach was: jede Bridge-Nacht in 1929, ich habe das Buch nicht mehr zuklappen können. Für 1930 habe ich das dann aufgegeben. Das dauert ja, so ein Bridge-Spiel, und du mußt dich höllisch konzentrieren, wenn du was werden willst. Da kannst du keinen small-talk, keine ernsthafte Unterhaltung nebenher führen. Warum also spielen die vier Bridge wie die Besessenen? Ich denke mal, genau deshalb. Die wollen und können nicht reden. Die spielen sich vor, alles sei ganz normal. Sie wollen voneinander nicht lassen, die wollen aber auch nicht – zwei hier, zwei dort – für den anderen das Feld räumen. Sie möchten ihre Ehen erhalten und den schönen Schein ihrer Viererfreundschaft.
Das funktioniert natürlich nicht. Ich finde in HGs Tagebuch immer mal wieder »Kummer über Else«, »Else gereizt«, dann auch Irritationen über Cläreliese auf dänisch – »sie ist zärtlich und wunderschön, aber ich habe Sehnsucht nach meiner richtigen Frau«. Daraus wird nichts, denn Else hat HG vor die Tür des gemeinsamen Schlafzimmers gesetzt. Bei Helmuth und Cläreliese ist das vermutlich ähnlich. HG ist oft noch spät nachts bei ihr und besucht sie »an ihrem Bett«. Das wird kaum das Hinrichs’sche Ehebett gewesen sein. Wie machen die das? Solche Nähe wird dem Personal nicht verborgen bleiben, Cläreliese holt HG oft aus dem Kontor ab für einen Mittagsspaziergang, auf dem Bahnhof in Magdeburg oder Hannover wartet »meine kleine Vize-Frau«, dort steigt aber jedesmal halb Halberstadt aus dem Zug. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie der Klatsch blüht in dieser überschaubaren Stadt. Wo ist Kurt?
Zweimal finde ich in dieser Zeit den Hinweis auf einen Vater-Sohn-Dialog. Einmal war das ein »ernstes Gespräch«, einmal war es »ärgerlich«. HG: »Ich muß meinen Weg gehen.« Mit Cläreliese? Ich habe keine Unterlagen von Kurt. Da beide in Halberstadt sind und sich täglich in der Firma sehen, schreiben sie sich keine Briefe. Else hat ihre Aufzeichnungen vernichtet, Clärelieses Papiere sind in einer Berliner Bombennacht verbrannt. Ich bin abhängig von HGs Notizen, und was ich da lese, bestärkt mich in meinem unguten Gefühl: Diese Viererbande ist absurd. Wo immer HG und Else hinkommen, die Hinrichs’ sind schon da. Die tauchen auf bei Elses Freunden in Wismar und Umgebung, sie sind plötzlich in Dänemark, alle vier gehen auf Bridgereisen für verlängerte Wochenenden mit Geld, das aus ihrer Bridgekasse stammt. Und was tun sie auf diesen Reisen? Sie spielen Bridge.
Die müssen sich doch irgendwann auf die Nerven gehen! Tun sie auch. »Szene mit Cläreliese«, lese ich, »große Krise im Viereck, wir spielen abends äußerlich unverändert Bridge.« Der Ton in der Gruppe sei »sehr verkrampft«, notiert HG an anderer Stelle, »Spannung mit Else«. Am nächsten Tag
Weitere Kostenlose Bücher