Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
nachmittags, erbot ich mich freiwillig zu einer Patrouille, da ich den ganzen Tag im Büro gearbeitet hatte und mich nun auf einem schönen Spazierritt erholen wollte. Es war die Nachricht gekommen, daß in einem Dorfe durch zwei Deutsche und einen estnischen Soldaten ein Schwein gestohlen war. Ich ritt hin, unterwegs mußte ich aber die beiden Dragoner, die ich mitgenommen hatte, zurücklassen, da sich das Pferd des einen schwer verletzt hatte. So ritt ich denn allein weiter, nur von unserem Dolmetscher Hoffmann begleitet, der ja aber als militärische Kraft nicht in Betracht kam.«
»Am Tatort angekommen stellte ich nach kurzer Zeit die Diebe, zwei deutsche Infanteristen, von denen der eine, der Anführer, angetrunken und deshalb doppelt gefährlich war. Nach meiner ersten Aufforderung, die Waffen abzugeben (Pistole, Seitengewehr, Messer), drohte mir dieser, er werde mich und alle Umstehenden niederstechen und niederschießen, falls ich ihn festnehmen wolle. Ich hatte von da an schon die feststehende Überzeugung, daß er oder ich auf dem Platze bleiben mußte. Trotzdem versuchte ich es noch etwa 3/4 Stunden im Guten, bis ich merkte, daß die Gefahr für mich immer größer wurde.«
»Ich hatte ihn im Lauf des Gesprächs aufs freie Feld hinausbugsiert, da ich im Walde, wo er sofort in Deckung springen und mich beschießen konnte, gänzlich machtlos war. Alle Versuche, seinen Namen und seine Kompagnie im Gespräch von ihm zu erfahren, schlugen fehl. Statt dessen drohte er mir mehrmals, er werde sich bis zum Äußersten wehren, wenn ich ihm etwas tun wolle. Da machte ich, ohne daß er es merkte, meine Pistole fertig, um ihn unmittelbar zu zwingen, mir seine Waffen auszuliefern. Während ich mit ihm über eine freie Fläche ging, sprang ich nach rechts zur Seite, zog die Pistole und schrie ihn an: ›Waffen weg!‹ Darauf er: ›Du Hund hast mich betrogen!‹«
»Bei diesen Worten griff er zur Pistole mit derart angreifender Gebärde, daß ich mir darüber klar war, daß er sofort schießen würde, wenn er die Pistole auf mich anschlagen konnte. Deshalb schoß ich; da der erste Schuß vorbei ging und der Kerl darauf schrie: ›Du Hund, ich schieß dich tot!‹ schoß ich sofort noch einmal. Darauf sank er um und blieb auch gleich still liegen. Ich lief darauf schnell auf den anderen Infanteristen zu, mit dessen Festnahme der Dolmetscher beschäftigt war. Der wehrte sich gar nicht.«
»Wie es gleich darauf in mir aussah, kannst Du Dir gar nicht vorstellen, denn Du hast noch nie einen Menschen erschossen. Es fehlte wirklich nicht viel, lieber Vater, und ich hätte mir selber auch eine Kugel durch den Kopf geschossen. Der Gedanke, daß einer aus der Familie Klamroth als Mörder vor dem Kriegsgericht stehen soll, war und ist mir furchtbar. – Heute, nachdem die ersten gerichtlichen Vernehmungen vorbei sind, bin ich etwas ruhiger. Ich sage mir jetzt, daß ich erstens als dienstlich ausgeschickter Patrouillenführer gehandelt habe. Zweitens stellte sich bei der Zeugenvernehmung heraus, daß ich tatsächlich im allerletzten Augenblick geschossen habe. Denn mehrere Zeugen sagten übereinstimmend aus, daß der Infanterist, kurz ehe ich zur Tat schritt, ohne daß ich es bemerkte, die Pistole entsichert hat. Es hätte also wahrscheinlich nur noch wenige Augenblicke gedauert, und es wäre umgekehrt gekommen.«
»Wenn die Kriegsgerichtssitzung vorbei ist, hoffe ich auf Urlaub, um Dir alles mündlich erzählen zu können. Ich hoffe, daß das Gericht mich freispricht. Und wenn nicht, kann ich dann noch Dein Sohn sein? Dein Hans Georg«.
Er kann. Kurt schreibt: »Mein lieber guter Junge! Ja, das ist ein schweres Erlebnis, das Du durchgemacht hast, und ich erlebe Deine seelischen Kämpfe mit Dir. Meine Ansicht ist, daß Du Dich der Situation gewachsen gezeigt hast und keinerlei Grund hast, jetzt den Kopf hängen zu lassen. Und für den Mann ist es auch so besser, als wenn er Dich erst angeschossen hätte. Dann wäre er wegen Widerstands gegen einen Vorgesetzten mit der Waffe auf den Sandhaufen gestellt und standgerichtlich erschossen worden. Komm nur her, lieber Junge, wir nehmen Dich offenen Herzens auf und wollen Dir helfen, über die schweren Eindrücke hinwegzukommen. Dein Dich um so mehr liebender Vater Kurt Klamroth«.
Mutter Gertrud schreibt: »Denke daran – ›es kann mir nichts geschehen, als was Er hat versehen und was mir selig ist‹ – und ich hoffe doch, Du sagst Dir auch, daß es um solch aufwieglerischen
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