Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
überhaupt etwas ab? Kann die Fabrik noch arbeiten?« Sechs Tage später ist die Antwort da, diesmal vier eng beschriebene Doppelbögen – Kurt hat sich Zeit genommen.
Nein, in der Tat wäre das Leben der Familie, die Gehälter der Firmen-Angestellten, die Kosten für den immer noch vorhandenen Fuhrpark, Lagerkapazitäten, Silos und zahlreiche Latifundien nicht von dem Rittmeistergehalt zu bestreiten. Kurt hat bei seiner Rückkehr nach Deutschland alle Auslandszulagen verloren, es gibt keine Spesen mehr, die Wohnung in Magdeburg muß er selbst bezahlen und sich selbst ernähren. Aber die Firma blüht und gedeiht. 127 Jahre gibt es die jetzt schon, und sie macht erhebliche Gewinne dank der tatkräftigen Leitung von Kurts Schwager Heinrich Schulz, der verheiratet ist mit Gertruds Schwester. Kurt hatte ihn noch kurz vor dem Krieg zum Gesellschafter gemacht: »Ein Prokurist hätte nie das leisten können, was er als Teilhaber geschafft hat.«
Kurt listet sein erhebliches Vermögen auf, die Beteiligungsverhältnisse in der Firma, die Gelder von Mutter Gertrud, die nicht zu knapp im väterlichen Bankgeschäft Gewinne machen. Er erklärt dem Sohn, wie das Erbe für dessen Geschwister dermaleinst zu finanzieren ist, listet Steuerbelastungen und Abschreibungen, stille Reserven und Kapitalinvestitionen auf – der Vater behandelt den sehr jungen Sohn wie den Partner, der er einmal werden soll.
So ist Kurt mit seinem Sohn. Auch. Er sagt nie, »das geht dich nichts an«, oder »red nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst«. Er möchte, daß HG versteht. Er ist nicht ungeduldig, auch nicht hochmütig gegenüber diesem naseweisen Kerlchen im fernen Litauen. Während etwa der Vater Verständnis hat für die Erschöpfung der kriegsmüden Bevölkerung, kräht HG Beifall, als in Berlin Streikende zusammengeschossen werden: »Hoffentlich bleibt die Regierung hart. Die sollen doch mal sehen, wer hier Herr im Hause ist!« Antwort Kurt: »Und wer baut das Haus? Außerdem, mein lieber Junge, hast Du noch nie gehungert.« HG schämt sich sofort: »Vielleicht sehe ich das von hier aus nicht immer richtig.«
HG mit »Lenin« und »Trotzki«
V IER
P LÖTZLICH WIRD ES HEKTISCH FÜR HG. Am 10. Februar 1918 hatte der russische Unterhändler Leo Trotzki die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk abgebrochen. Ludendorff nahm das zum Anlaß, die lang gehegten Pläne zur Eroberung Estlands und Livlands durchzuführen, offiziell um die Baltendeutschen aus den Fängen der Roten Armee zu befreien, aber eigentlich weil er die Gebiete immer schon haben wollte – Petersburg liegt von der Narowa-Mündung knappe 150 Kilometer entfernt. Was ist denn nun schon wieder Livland? Ich weiß es inzwischen – Livland gibt es offiziell nicht mehr, es liegt an der Ostseeküste, war ganz früher deutsch, dann polnisch, auch mal schwedisch und ab 1721 friedliche 200 Jahre lang eine der russischen Ostsee-Provinzen mit der Hauptstadt Riga. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es zwischen Lettland und Estland aufgeteilt.
Hier also soll die 8. Armee vorstoßen und zwar schnell. Für den Fall, daß die Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden, wollte Ludendorff auf Nummer Sicher gehen, und was man hat, das hat man, nicht wahr? »Es wird großartig werden«, freut sich HG und legt alle Versetzungswünsche nach dem Westen ad acta. Er ist Fähnrich der Kavallerie geworden und macht sich flugs als Vorgesetzter ans Werk. In elf Tagesmärschen von 50 Kilometern in tiefem Schnee schaffen sie die Strecke von Riga bis zum Finnischen Meerbusen – »daß die Pferde das ausgehalten haben, ist fast unbegreiflich«. Der ganze Vormarsch »verlief für uns« – schreibt HG – »ohne jeden Zusammenstoß mit den Russen, die immer dicht vor uns ausrissen. Bis auf vorgestern«. Mit einer starken Patrouille, zehn Mann, überrumpeln sie in einem Dorf eine ganze russische Schwadron. 40 Offiziere und 72 Mann mit allem Zubehör werden entwaffnet und gefangengenommen. »Als wir mit der Verhaftung beinahe fertig waren, kam eine russische Offizierspatrouille über die Brücke geritten, gänzlich ahnungslos.«
HG tut, was er gelernt hat: «Auf 30 Schritt rief ich den Offizier an: ›Stoi!‹ Das dumme Gesicht von dem Mann hättet ihr sehen sollen, es war zum Malen! Aber er war doch nicht so feige wie die anderen, sondern nach einem Augenblick der Überlegung riß er sein Pferd herum und zog dabei die Pistole, um sich mit mir zu verunreinigen (!). Darauf hatte ich bloß
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